Gehirnflüsterer by dtv

Gehirnflüsterer by dtv

Autor:dtv
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbücher/Angewandte Psychologie
Herausgeber: dtv


Isolation und Bindung

Im August 2006 griff eine ältere Anwohnerin in Strasshof im Nordosten von Wien zum Telefon und wählte die Notrufnummer. Eine verzweifelte und verwirrte junge Frau hatte an ihre Küchenfenster gehämmert und sie gebeten, die Polizei zu rufen. Es konnte alle möglichen Gründe für den Notruf geben, ein Streit mit dem Freund, das Ende einer wilden Partynacht, die übliche Polizeiroutine. Nicht so in diesem Fall. Die fragliche junge Frau war Natascha Kampusch. Und ihre Geschichte ist alles andere als Routine. Acht Jahre zuvor, sie war gerade zehn, hatte sie sich auf dem Schulweg vermeintlich in Luft aufgelöst. Wochenlang wurde über ihr Verschwinden auf den Titelseiten der österreichischen Zeitungen berichtet. Eine landesweite Suche begann. Mit Tauchern und Hunden, mit einer Spezialeinheit der Polizei und freiwilligen Helfern. Auch die Ungarn beteiligten sich. Aber es führte zu nichts. Bis zu diesem August 2006. Die ganze Zeit, in der sie vermisst war, hatte Natascha Kampusch quasi wörtlich unter den Augen der Leute gelebt, die sie suchten. Sie verbrachte die meiste Zeit in einer umgebauten Montagegrube unter der Garage eines Einfamilienhauses. Alleine. Ihr Verlies war keine drei Meter lang, keine zwei Meter breit und fensterlos. Die Eingangsluke war fünfzig Zentimeter breit und fünfzig Zentimeter hoch. Das Ganze war schallisoliert. Während der Tortur in diesem Verlies, von dem sie dachte, es sei mit Sprengstoff gesichert, während der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft hatte sie nur Kontakt zu ihrem Entführer, dem zu Beginn der Entführung 36-jährigen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil. Er zog sie groß. Er unterrichtete sie im Lesen, Schreiben, in Mathematik und anderen Fächern. Sie konnte Radio hören und Zeitungen lesen. Er versorgte sie mit Essen und Kleidern, mit allem, was eine Zehnjährige braucht – oder eine Achtzehnjährige. Bis auf die Freiheit.

Davon, wie auch vom Verbleib von Natascha Kampusch, hätte man womöglich nie etwas erfahren, wenn sie nicht doch einen Fluchtversuch in die Freiheit gemacht hätte, als sie das Auto ihres Entführers mit dem Staubsauger reinigte. Gelegentlich durfte sie ihr Gefängnis verlassen, um zu duschen oder ihrem Entführer bei der Hausarbeit zu helfen. Falls sie einen Fluchtversuch unternahm, drohte er sie zu töten.

Die Studie von Miles Hewstone mit den Muslimen und den Hindus zeigt, was passieren kann, wenn die Gruppenidentität dominant wird. Wir heroisieren diejenigen, die wie wir sind, und verteufeln die anderen, auf die das nicht zutrifft. Wir glauben, was wir glauben wollen. Aber manchmal wirkt die Gruppendynamik auch andersherum. Unter bestimmten, außergewöhnlichen Umständen fangen wir an zu glauben, was wir nicht glauben wollen. Und helfen denen, die uns schaden, oder mögen sie sogar.

Das ist eine Auffassung, die unter dem Namen Stockholm-Syndrom bekannt wurde. Der Begriff stammt von einem Banküberfall im Jahr 1973, bei dem Geiseln genommen und mehrere Tage gefangen gehalten wurden. Es ist ein in der Literatur über Geiselnahmen gut dokumentiertes Phänomen. Mit Stockholm-Syndrom bezeichnet man eine psychische Dynamik, die Geiseln dazu bewegt, Verständnis für ihre Entführer zu entwickeln, positive persönliche Beziehungen aufzubauen, sie sogar zu unterstützen. Normalerweise beginnt das mit versöhnlichen Gesten der Geiselnehmer, mit denen die Geiseln nicht gerechnet hatten. Das können



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