Gefrorener Schrei. Roman by Tana French

Gefrorener Schrei. Roman by Tana French

Autor:Tana French [French, Tana]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104035727
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


10

Am nächsten Morgen liege ich im Bett und überlege ernsthaft, nicht aufzustehen. Ich habe nicht viel geschlafen. Nachdem ich meine Ma angerufen und ihr von Aislinns blutverklebtem Mund und zertrümmerten Zähnen erzählt hatte (»Aha«), habe ich die eine Hälfte der Nacht damit verbracht, bei irgendwelchen undefinierbaren Geräuschen – und bei dem Wetter gab’s davon reichlich – aufzuspringen und nachzuschauen, wo sie herkamen, und die andere Hälfte mit dem Versuch, möglichst ruhig liegen zu bleiben und mir zu überlegen, wer eher eins aufs Maul verdient hat, Steve, weil er sich diese Bandentheorie hat einfallen lassen, oder ich, weil ich tatsächlich drauf reingefallen bin. Gegen sechs Uhr morgens ist mein Körper ein einziger verspannter Knoten. Seit der Schule hab ich nicht mehr blaugemacht, aber heute fällt mir kein Grund ein, warum ich es nicht tun sollte. Zweierlei hält mich dennoch davon ab: Wenn ich nicht zur Arbeit fahre, werde ich joggen, bis meine Beine streiken, und dann zu Hause rumhocken und mich verrückt machen; und wenn ich nicht zur Arbeit fahre, heißt das, dass ich mich noch einen Tag länger mit diesem gottverdammten Fall befassen muss.

Ich ziehe meine Laufsachen an, ohne Licht zu machen. Dann schalte ich den Bewegungsmelder aus, schlüpfe auf meine kleine Terrasse und klettere über die Mauer. Die Gasse ist dunkel, auf diese matte, leere Art kurz vorm Morgengrauen, wenn sogar die Nachtgestalten – Füchse, Fledermäuse, Betrunkene und Gefahren – zur Ruhe kommen und einschlafen. Selbst der Wind ist zu einem unangenehmen, schwachen Flattern abgeklungen. Ich bewege mich geräuschlos die Gasse entlang und drücke mich in den Schatten, ehe ich um die Ecke spähe. Niemand lungert am Anfang meiner Straße herum; es ist überhaupt niemand da, nirgendwo, soweit ich in dem kränklich gelben Licht erkennen kann. Ich schleiche mich ein Stück weiter und schaue meine Straße die andere Richtung hinunter: auch da kein Mensch.

Normalerweise fühle ich mich nach dem Joggen, als würde ich nur noch aus langen, kraftstrotzenden Muskeln bestehen, gesund und bereit für noch mehr, für alles, egal was. Dieses Gefühl hilft mir, meine Schicht zu überstehen. Aber heute ist keine Kraft da. Ich schleppe mich dahin wie eine schwabbelige Anfängerin. Meine Beine sind so schwer, als steckten sie in nassen Sandsäcken, meine Arme rudern, und meine Atmung findet keinen Rhythmus. Ich strenge mich noch mehr an, bis ich das Gefühl habe, dass mir gleich die Lunge platzt und ein dunkles Rot in meinem Gesichtsfeld hochbrodelt. Ich halte mich an einem Laternenpfahl fest, Oberkörper vorgebeugt, und warte, bis ich wieder klar sehen kann.

Ich trabe nach Hause – irgendwo im Hinterkopf weiß ich, wenn ich langsamer werde und ins Gehen verfalle, bin ich geliefert. Als ich schließlich in meine Straße biege, hat das Zittern in meinen Beinen aufgehört. Die ersten Schichten Dunkelheit lösen sich allmählich auf, und in manchen Fenstern geht das Licht an. Noch immer ist keine Menschenseele zu sehen.

Ich habe Fleas gesagt, ich würde meine Türschlösser und die Alarmanlage überprüfen lassen. Das war mein Ernst, aber irgendwann im Laufe der Nacht habe ich meine Meinung geändert. Der Kerl, der mein Haus beobachtet, ist das Einzige in dieser Woche, das noch irgendwie Potential hat.



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