Gebrauchsanweisung für London by Ronald Reng
Autor:Ronald Reng [Reng, Ronald]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-11-03T23:00:00+00:00
Londoner IV: Wolfgang Tillmans
Wolfgang Tillmans in seinem Atelier in der Cambrigde Heath Street, Bethnal Green:
Die Hässlichkeit Englands hat mich schon immer mehr angezogen als die Schönheit Italiens oder Frankreichs. Weil ich das Pittoreske als leblos empfinde. In London dagegen ist immer alles in Bewegung, alles ist immer provisorisch, nie fertig und deshalb menschlich. Wenn wir hier im East End einen Kilometer Straßenkante abliefen, was meinst du, was wir da alles finden würden an aufgerissenen und vernarbten Bürgersteigen, schlecht übermalten Türen, hektisch umgebauten Mauern – alles Zeichen menschlicher Wünsche, menschlichen Handelns, menschlichen Unvermögens. Hier hat jemand versucht, eine schicke Pizzeria aufzumachen, dort wollte jemand seinen Garten vergrößern. Du entdeckst mehr Spuren vom Leben in London.
In Deutschland oder Frankreich gibt es natürlich auch Hässlichkeit, aber es ist eine glatt verputzte Hässlichkeit. Das kontinentale Europa hat das Bedürfnis, das Leben komplett in den Griff zu bekommen und dafür eine Designlösung zu finden. In England sucht man nur nach einer Lösung für das gerade drängendste Problem. Also wird gestopft und geflickschustert ohne Gesamtkonzept. Das eklatanteste Beispiel für diese grundsätzlich unterschiedlichen Lebensauffassungen liefert die U-Bahn: Die Londoner tube ist einfach eine banale Röhre, so dick und groß wie nötig, damit die Züge eben durchpassen und die Leute auf dem Bahnsteig Platz finden – zu Stoßzeiten vielleicht nicht alle. Und wenn die tube eines Tages wirklich aus allen Nähten platzt, dann wird die Röhre ein bisschen ausgebessert, umgeändert, vergrößert, aber wieder nur gerade so viel wie nötig. In Deutschland dagegen werden U-Bahn-Stationen für die maximal vorstellbare Kapazität gebaut, mit riesigen Innenräumen; als ob man damit rechnen müsste, dass in jeder Stadt jederzeit Olympische Spiele stattfinden könnten und Hunderttausende Besucher kämen. Das führt dann dazu, dass sich die Menschen in diesen gigantischen unterirdischen, gekachelten Quadern verloren, klein und leblos fühlen. In der Londoner U-Bahn ist es hingegen recht gemütlich. Sicherlich gibt es Leute, die jetzt entgegnen werden: »Ich kriege dort aber Platzangst.« Grundsätzlich gibt es immer zwei Blickrichtungen von Europäern auf London. Die einen beklagen, dass in London kein Fenster richtig schließt. Die anderen – und zu denen gehöre ich – mögen dies und verstehen, dass ein Grundgedanke hinter der vermeintlichen englischen Anspruchslosigkeit steckt: Gegen alle denkbaren Eventualitäten abgesichert zu sein, interessiert uns nicht. Es muss reichen – das ist wichtig.
Ich kam 1990 nach London. Es war eine geradezu schicksalhafte Wendung. Ich hatte im September 1989 beim Lette-Verein, einer Hochschule für Fotografie in Berlin, eine Ausbildung begonnen, die ich grauenhaft fand. Deutsche Fotografie muss immer ernst sein, da ist kein Raum für Zweideutigkeit, für Spielerisches, außer vielleicht bei Bernhard Blume. In Deutschland musst du immer in Serie arbeiten, die Becher-Schule. Das entspricht einfach nicht meiner Art. Ich war immer anders. Ich habe mich immer als freier Künstler verstanden, nicht als Fotograf, auch wenn die Kamera mein Medium ist – aber, Entschuldigung, ich hasse das: den ganzen Kunstkram. Mir widerstrebt es, in absoluten Tönen einzuordnen, was deutsche fotografische Kunst, was Londoner fotografische Kunst ist, wo ich stehe. Ich will lieber weiter über London reden. Wo war ich stehen geblieben? Genau, der Lette-Verein.
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