Gaudí in Manhattan. Eine phantastische Erzählung by Zafón Carlos Ruiz

Gaudí in Manhattan. Eine phantastische Erzählung by Zafón Carlos Ruiz

Autor:Zafón, Carlos Ruiz [Zafón, Carlos Ruiz]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Fischer
veröffentlicht: 2015-06-25T00:00:00+00:00


»Welcome to New York.«

Unser Kunde war eine Frau. Eine junge Frau von verwirrender Schönheit, fast schmerzlich anzuschauen. Ein viktorianischer Chronist hätte sie als Engel beschrieben, aber ich sah nichts Engelhaftes in ihrer Erscheinung. Ihre Bewegungen waren katzenhaft, ihr Lächeln heimtückisch. Die Dame führte uns in einen Saal voller Halbschatten und Schleier, die im Widerschein des Gewitters leuchteten. Wir nahmen Platz. Gaudí zeigte seine Skizzen, eine nach der andern, und ich übersetzte seine Erklärungen. Eine Stunde – oder eine Ewigkeit – später heftete die Dame ihren Blick auf mich und bedeutete mir lippenstiftlippenleckend, sie jetzt mit Gaudí allein zu lassen. Verstohlen schaute ich den Meister an, und der nickte unergründlich. So bekämpfte ich meine Instinkte und entfernte mich gehorsam Richtung Gang, wo schon die Türen der Aufzugskabine aufgingen. Einen Augenblick blieb ich noch stehen, wandte mich um und sah, wie sich die Dame über Gaudí neigte, mit unendlicher Zärtlichkeit sein Gesicht zwischen die Hände nahm und ihn auf die Lippen küsste. Da erleuchtete ein kurzer Blitz die Dunkelheit, und einen Moment lang schien mir, bei Gaudí sei keine Dame, sondern eine düstere, leichenhafte Gestalt mit einem großen schwarzen Hund zu ihren Füßen. Das Letzte, was ich erblickte, bevor der Fahrstuhl seine Türen schloss, waren die Tränen auf Gaudís Gesicht, glühend wie giftige Perlen. Zurück in meinem Zimmer, legte ich mich aufs Bett, das Gemüt von Übelkeit erstickt, und wurde von blindem Schlaf übermannt. Als die ersten Lichter mein Gesicht streiften, lief ich zu Gaudís Schlafgemach. Das Bett war unberührt und vom Meister keine Spur zu sehen. Ich fuhr zur Rezeption hinunter und fragte, ob jemand etwas von ihm wisse. Ein Portier sagte, er habe ihn eine Stunde zuvor weggehen und die Fifth Avenue hinauf verschwinden sehen, wo ihn beinahe eine Straßenbahn überfahren hätte. Ohne erklären zu können, warum, wusste ich genau, wo ich ihn finden würde. Ich ging zehn Blocks bis zur St Patrick’s Cathedral, die um diese frühe Zeit menschenleer war. Von der Schwelle des Kirchenschiffs aus erkannte ich die Gestalt des Meisters, der vor dem Altar kniete. Ich trat zu ihm und setzte mich neben ihn. Ich hatte den Eindruck, sein Gesicht sei in einer einzigen Nacht um zwanzig Jahre gealtert und habe den abwesenden Ausdruck angenommen, der ihn bis ans Ende seiner Tage begleiten sollte. Ich fragte ihn, wer die Frau gewesen sei. Perplex schaute er mich an. Da wurde mir bewusst, dass nur ich die Dame in Weiß gesehen hatte, und obwohl ich mich nicht getraute, Vermutungen darüber anzustellen, was Gaudí gesehen hatte, war ich doch sicher, dass der Blick derselbe gewesen war. Am selben Tag schifften wir uns für die Rückreise ein. Als wir New York am Horizont verschwinden sahen, zog Gaudí die Mappe mit seinen Entwürfen hervor und warf sie über Bord. Entsetzt fragte ich ihn, was nun mit den nötigen Mitteln für die Fertigstellung der Sagrada Familia geschähe. »Gott hat keine Eile, und ich kann den Preis nicht zahlen, den man von mir verlangt.«



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