Feindbild und Vorbild by Ivan Jordović Uwe Walter

Feindbild und Vorbild by Ivan Jordović Uwe Walter

Autor:Ivan Jordović, Uwe Walter
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter De Gruyter
veröffentlicht: 2018-07-15T00:00:00+00:00


II. Das Risiko der anthroponomen Ordnung

Gehen wir nochmals zurück auf die aristotelische Definition der politischen Freiheit. Sie besteht in der Teilhabe der Bürger an den kollektiven Entscheidungen. Hier freilich liegt das schwelende Dilemma, das immer wieder hell aufloht. Denn wieweit soll die Reichweite des Entscheidens gehen? Die Antwort lautet: sehr weit. Denn die griechische Polis gab sich ihre innere Ordnung selber, nicht nur die politische, sondern partiell auch die soziale und familiale. Das Entscheiden über die Ordnung ist ein semantischer Zentralnerv im politischen Denken der Hellenen. Dabei geht es zunächst um das Zustandekommen von Gesetzen. Wahrscheinlich nirgendwo bei den Griechen entquillt das Gesetz aus dem Willen der Götter. Es entstammt entweder der Verfügung eines mythischen Gründers oder dem Willen der Gemeinschaft.877

Diese Autonomie der politischen Gemeinschaft stößt notwendigerweise auf ihre eigene Problematik. Wenn eine Gemeinschaft kollektiv über ihre Ordnung verfügt, dann ergeben sich schnell Aporien und Paralogismen. Als erstes geraten Autonomie (der Gemeinschaft) und Autorität (der gesetzten Ordnung) in einen antinomischen Zwist. Das zeigt sich an der Geltung von Gesetzen. Wenn das Gesetz seinen Ursprung im Willen der Gemeinschaft haben soll, dann bezieht es auch seine Autorität aus diesem Willen. Dieser Wille äußerte sich unter nichtmonarchischen Bedingungen stets als Beschluss des Volkes. Doch was könnte den Autor des Gesetzes daran hindern, dieses zu widerrufen? Die kreisläufige Selbstaufhebung kam grell zum Vorschein, als sich im Herbst 406 die athenische Demokratie beim Arginusenprozess wissentlich und willentlich über Recht und Gesetz hinwegsetzte: Die Strategen, die während der siegreichen Seeschlacht bei den Arginusen versäumt hatten, die ertrinkenden Bürger zu retten, wurden mit einem kollektiven Urteil hingerichtet. Als der Redner Euryptolemos den Antrag stellte, die Strategen jener Seeschlacht einem ordnungsgemäßen gerichtlichen Verfahren zu unterziehen, in welchem jedem Angeklagten je nach seiner Schuld ein eigenes Urteil zustand, rief er der Volksversammlung zu: „Bewahrt die Gesetze, die euch gehören, und denen ihr eure Größe am meisten verdankt.“ Mit diesem Appell erwiderte der Redner das Geschrei, das sich unter den versammelten Bürgern plötzlich erhob: Es sei unerhört, wenn jemand das Volk daran hindere, „zu tun was es wolle“ (πράττειν ὃ ἂν βούληται).878 Dieser Schrei, wie wenige es auch gewesen sein mögen, die ihn während der taktischen Diskussion über Verfahrensfragen ausstießen, riss jäh das Tor auf, welches die suizidale Gefahr ausgesperrt hielt. Wenn das Volk zu jeder Zeit alles tun konnte, was ihm beliebte, dann drohte die Selbstvernichtung der Volkssouveränität. Deswegen vor allem ballten sich die Ereignisse jenes Herbsttages zum Fanal, das wie ein Alb auf dem politischen Denken der Nachwelt lasten blieb und zur memorialen Landmarke wurde, ähnlich wie der Prozess gegen Sokrates.

Je souveräner der Akt des Setzens ist, desto widerrufbarer und labiler ist das Gesetzte. Zwar haben die Athener keine Mühe, Gesetz und Beschluss semantisch auseinanderzuhalten. Aber in harten Kontroversen verwischen die Redner vorsätzlich beides; das gelingt ihnen zumindest bis zum Abschluss der großen Gesetzeskodifikation im Jahr 401. Und es kann gelingen, weil das normative Gesetz und der konkrete Beschluss auf dieselbe Weise zustande kommen und denselben Ursprung haben, nämlich im Volkswillen. Diese Identität des Ursprungs brachte die



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