Fegefeuer by Oksanen Sofi

Fegefeuer by Oksanen Sofi

Autor:Oksanen, Sofi [Oksanen, Sofi]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462304947
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2014-09-21T04:00:00+00:00


[Menü]

1949, West-Estland

Hans schlägt Aliide nicht, obgleich er es könnte

Der Wind ging durch die Birken, die leer waren von kleinen Vögeln. Aliides Kopf brummte wie nach zehn schlaflosen Nächten. An der Haustür schloss sie die Augen und sprang blind zu der kleinen Kammer hin, tastete nach dem Griff, stieß an die Säge, die an der Wand hing, dass sie zu Boden fiel, gelangte in die kleine Kammer und öffnete im Halbdunkel die Augen.

Der Schrank vor Hans’ Versteck stand an seinem Platz.

Erst jetzt begann es in Aliides Brust zu hämmern, ihre trockene Unterlippe bekam einen Riss, Blut spritzte ihr in den Mund, ihre schweißnassen Finger rutschten von den Seiten des Schranks ab, und Aliide vernahm Geräusche, die sonst bis in die Küche zu hören gewesen waren: Ingels Schritte, Lindas Husten, das Klirren einer Tasse, Lipsis Pfoten. Der Schrank wollte sich nicht rühren, Aliide musste ihn mit Schulter und Hüfte schieben, er knirschte, das Klagen hallte in dem leeren Haus wider. Aliide hielt inne, um zu horchen. Die Stille knisterte. Die eingebildeten Stimmen in der Küche verstummten sofort, als Aliide aufhörte, sich zu bewegen. Auf den Dielenbrettern zeigten sich schon Spuren vom häufigen Verschieben des Schrankes. Die müsste sie bedecken. Unter den Schrankfüßen war etwas. Aliide bückte sich, um nachzusehen. Ein Keil. Zwei Keile. Unter den Füßen, die den Schrank etwas wackeln ließen. Wann hatte Ingel sie dorthin gesteckt? Aliide entfernte sie, und der Schrank glitt zur Seite.

»Hans, ich bin es.«

Aliide versuchte, die Tür des Verstecks aufzuziehen, aber ihre schweißnasse Hand rutschte von den kleinen Vertiefungen im unteren Türrand ab, die dort angebracht waren, damit man beim Ziehen einen festen Halt hatte.

»Hans, hörst du mich?«

Aus dem Versteck kam kein Laut.

»Hans, hilf mir, drück gegen die Tür, ich bekomm sie nicht auf.«

Aliide klopfte und schlug dann mit der Faust gegen die Tür.

»Hans! Sag was!«

Irgendwo in der Ferne krähte ein Hahn. Aliide erschrak und bekam Angst, sie schlug gegen die Tür. Der Schmerz in den Knöcheln dröhnte bis in die Fußsohlen, die Wand bog sich, aber die Stille im Versteck hielt an. Schließlich holte Aliide aus der Küche ein Messer, schob es zwischen Tür und Wand und bekam endlich die Vertiefungen über den Fußleisten zu fassen. Sie riss die Tür auf. Hans hockte regungslos in einem Winkel des Verschlags, den Kopf auf den Knien. Erst als Aliide ihn berührte, hob er den Kopf. Erst als Aliide ihn zum dritten Mal bat herauszukommen, wankte Hans in die Küche. Und erst als Aliide ihn fragte, was geschehen sei, sagte er:

»Sie sind abgeholt worden.«

Diese Stille, dergleichen gehörte mitten am Tage nicht in ein Bauernhaus. Nur das Rascheln einer Maus in der Ecke. Sie standen in der Küche, und in ihnen brauste es, in der Stille rasselte ihr Atem, Aliide musste sich hinsetzen und auch den Kopf gegen die Knie drücken, denn sie konnte Hans’ Gesicht nicht ertragen, das vom Weinen einer ganzen Nacht bedeckt war.

Die Stille und ihr Hall wuchsen an, und plötzlich riss Hans seinen Rucksack vom Nagel. »Ich muss ihnen nach.«

»Mach keinen Unsinn!«

»Natürlich muss ich das!«

Hans



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.