Ernst Troeltsch Spectator-Briefe und Berliner Briefe by Gangolf Hübinger Nikolai Wehrs

Ernst Troeltsch Spectator-Briefe und Berliner Briefe by Gangolf Hübinger Nikolai Wehrs

Autor:Gangolf Hübinger, Nikolai Wehrs
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Walter de Gruyter
veröffentlicht: 2018-07-15T00:00:00+00:00


Die Amerikanisierung Deutschlands (Januar 1922)

Editorische Vorbemerkung: Die Edition folgt dem Text, der erschienen ist in: Kunstwart und Kulturwart, hg. von Ferdinand Avenarius, 35. Jg., erste Hälfte, Oktober 1921 bis März 1922, Heft 4, Januarheft 1922, München: Kunstwart-Verlag Georg D. W. Callwey, S. 228–235 (A). Der Text erschien im Hauptteil des Heftes und mit der Datumsangabe 12. Dezember 1921.

A 228

Die Amerikanisierung Deutschlands

Berliner Brief

A 229

Die augenblickliche Lage ist beherrscht durch die Washingtoner Konferenz.833 Mit ihr ist Amerika wieder öffentlich in die große Weltpolitik eingetreten, nachdem es in Versailles mit Wilsons persönlicher Völkerbundspolitik eine seinem eigenen und wirklichen Willen nicht entsprechende Figur gemacht hatte. Der Wilsonsche Völkerbund war ein professorales, ideologisches Gebilde, das ohne genügende Kenntnis Europas, ohne Rückhalt an den entscheidenden Faktoren der amerikanischen Politik und ohne Charakterstärke Wilsons selbst erdacht worden war, das sein Urheber daher selbst sachlich in Paris verriet, um den Schein zu retten. Der so übrig bleibende Schein wurde dann ganz einfach ein Werkzeug der französischen Hegemoniepolitik und arbeitete in Genf vor den Toren Frankreichs im Interesse der französischen Realität, d. h. einer kolossalen kontinentalen Militärmacht, die finanzielle und politische Ziele unter dem Titel der Sicherung der Kriegsergebnisse betrieb und betreibt. Inzwischen ist in Amerika Wilson von dem Senat und den Wählern rücksichtslos desavouiert worden.834 Die Truppen sind von einem glorreichen Kreuzzug im Interesse der Tugend und Freiheit mit verschwindend geringen Verlusten – was bedeuten 75 000 Mann Tote für Amerika?835 – und mit dem Skalp des erlegten Menschheitsfeindes am Gürtel zurückgekehrt. Ein neues Regiment trat ins Amt und bereitete langsam und sorgfältig eine große politische Aktion vor, die das für amerikanischen Geschmack Gesunde und Menschenfreundliche an Wilsons Plan behaupten und zugleich das amerikanische reelle Interesse verwirklichen sollte. Die Angelsachsen sind Meister darin, Tugend und Profit, Sentimentalität und nüchternste Berechnung zu vereinigen und dabei obendrein ganz ehrlich an ihre Tugend zu glauben. Und so tritt jetzt ein Plan hervor, der den Wahnsinn des Wettrüstens, die beständige Kriegsgefahr und tödliche Konkurrenz der großen Wirtschaftsimperialismen beseitigt oder mildert und zugleich die amerikanische Weltstellung gegenüber England und Japan für die Zukunft sichert. Das sind heute die drei großen Weltreiche mit den großen Flotten. Nur solche kommen für die Weltpolitik noch in Betracht. Frankreich ist bloße Landmacht, es kommt trotz aller kulturellen Sympathien für die Weltpolitik nicht in Rechnung. Von Italien ist gar nicht mehr die Rede. Die | Landabrüstung ist für die Amerikaner mehr eine moralische Forderung. Wenn die Franzosen nicht wollen, so ist den Europäern nicht zu helfen, und man muß warten, bis sie wieder vernünftig werden. Nur allzustarke finanzielle Störungen, die aus dem europäischen Chaos zu entspringen drohen, wird man zu verhindern wissen. Von Deutschland ist nur in der letzteren Hinsicht, nicht in politischer die Rede. Ihm gegenüber fühlt man sich durch das Schulddogma, das immer noch für seine ganze Lage entscheidend ist, moralisch gedeckt und durch den Untergang der deutschen Flotte und Landmacht, von denen die erste nie wieder hergestellt werden kann, politisch desinteressiert. Die Seemächte sind entscheidend, und ihre Konflikte gilt es zu verhindern oder zu verschieben,



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