Epicordia by Corzilius Thilo

Epicordia by Corzilius Thilo

Autor:Corzilius, Thilo [Corzilius, Thilo]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492955089
Herausgeber: Piper ebooks


Der infernalische Schrei hallte in Laras Kopf nach, immer wieder, genau wie all der Schmerz der Welt, der mit ihm mitschwang.

Sie schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken zu fassen, um festzustellen, dass sie nicht mehr dort in der Wohnung am Ort dieses grässlichen Unglücks war. Schwammen Tränen in ihren Augen? Konnte das sein? Weinte sie etwa um das Schicksal dieses doch so bitterbösen Mannes?

Vorsichtig blickte sie sich um.

Sie war in einem Zimmer mit hoher Decke und hohen Fenstern. Vielleicht lag es in einem Herrenhaus oder einem Schloss? Lara konnte es nicht sagen in diesem Augenblick.

Sie hörte eine Stimme hinter sich.

»Meister Ma’Haraz?«

»Ja, mein Lord?«

Lara drehte sich auf der Stelle um. Und da erblickte sie ein Gesicht, von dem sie gehofft hatte, dass sie es vergessen könnte. Irgendwann einmal. Doch sie konnte es nicht. Und noch viel weniger jetzt, da sie hier war und das Antlitz jenes Mannes erblickte, der für vieles, was in Laras Leben geschehen war, aber so nie hätte geschehen sollen, die Verantwortung trug.

Roland Winter.

Auf einem lederbezogenen Sofa lag Joshua Mendel – oder vielmehr Meister Ma’Haraz. Lara wusste nicht, woher dieser Name kam, aber sie war sich beinahe sicher, dass dieser damit sein altes Selbst zu vergessen suchte. Er lag dort mit entblößtem Oberkörper. Am Fußende des Sofas stand Roland Winter und blickte zu ihm herab. Er war älter, als Lara ihn in Erinnerung hatte, und ihr fiel ein, dass sie eigentlich gar keine Ahnung hatte, wie alt Winter tatsächlich war. Seine Haare, die damals auf dem Friedhof von Highgate noch schwarz gewesen waren, waren nun stark durch das Grau des Alters verwaschen. Auch sein markantes Gesicht wies ein deutliches Mehr an Falten auf als dasjenige, an das Lara sich erinnerte. Aber nichtsdestotrotz und ganz ohne Zweifel war auch dieser Mensch, den sie hier sah, Roland Winter.

Dass er so alt gewesen war, hatte Lara nicht gewusst. Die gefrorene Melodie, die ihm seinerzeit seine Jugend zurückgegeben hatte, hatte offenbar ganze Arbeit geleistet.

Sie hörte ein Geräusch, blickte zur Seite und sah, wie eine Windböe einen Schwall Regen gegen die dunklen Fensterscheiben blies. Draußen herrschte ein richtig unangenehmes Wetter. Beinahe zum Fürchten. Ganz und gar kein sanfter Herbstregen.

Ein glatzköpfiger Mann mit einem wilden Gesicht betrat den Raum und schob einen Servierwagen vor sich her. Doch statt eines Snacks oder eines Teeservices waren dort eigenartige Gerätschaften aufgebaut. Ein Holzkasten mit mehreren Farbtuben sowie einige elektrische Apparaturen.

Niemand im Raum sagte auch nur ein Wort.

Der neu Hinzugekommene rückte einen Sessel seitlich neben das Sofa, auf dem Ma’Haraz lag, und verdeckte Lara die Sicht, sodass sie näher herantreten musste. Er hantierte mit seinen Gerätschaften herum und auf einmal wusste Lara, was der Mann war: Tätowierer. Und vor sich sah sie alles, dessen es bedurfte, ein sauberes Tattoo zu stechen.

Mit einem Tuch – wahrscheinlich in Desinfektionsmittel getränkt – wischte er über Ma’Haraz’ Brust.

»Bereit?«, fragte er kurz angebunden.

Ma’Haraz atmete entschlossen ein … und nickte.

Roland Winter drückte dem Tätowierer einen Zettel in die Hand, den dieser auseinanderfaltete. Offensichtlich die Vorlage für das, was Ma’Haraz von diesem Tag an für den Rest seines Lebens auf der Brust tragen sollte.



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