Engel des Vergessens - Roman by Wallstein Verlag

Engel des Vergessens - Roman by Wallstein Verlag

Autor:Wallstein Verlag
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wallstein Verlag
veröffentlicht: 2011-09-20T16:00:00+00:00


Nach Großmutters Tod werden die Abläufe in unserem Haus neu geordnet. Ihr Erbe wird aufgeteilt. Ich bekomme ihre Strohhüte und Kopftücher, ihre weißen Leinenunterröcke, ein paar Teetassen und Gläser sowie einzelne Fotografien. Diese Gegenstände sind mein Leibzubehör, finde ich, sie geben mir eine erste Gestalt.

Mutter richtet sich den Haushalt nach ihren Vorstellungen ein. Sie kauft sich ein Moped und fährt damit, wenn es sein muss, auch in die entlegene Bezirksstadt, um Amtswege und Einkäufe zu erledigen. Die Einkaufsware verstaut sie in einem großen Rucksack, den sie geschultert hat, oder in Taschen, die sie auf dem Gepäckträger festbindet. Allmählich übernimmt sie die Organisation der Familie. Vater beklagt zwar, dass sie ihm über den Kopf wachse, überlässt aber die amtlichen und organisatorischen Belange zur Gänze seiner Frau.

Er beginnt ein Doppelleben zu führen, ein Leben für die Nachbarn und eines für die Familie. Für die Nachbarn versucht er die Illusion eines unbeschwerten Daseins aufrechtzuerhalten. Er will, wenn er in Gesellschaft ist, seine Fröhlichkeit, seine Zutraulichkeit und seinen Fleiß zur Schau stellen. Er möchte als der zäheste Arbeiter gelten, als kultiviertester und umsichtigster Jäger des Reviers. Er will ein wagemutiger Motorradfahrer und der lustigste Klarinetten- und Harmonikaspieler im Ort sein. Er will wegen seiner denkwürdigsten Streiche und Unternehmungen im Gedächtnis der Nachbarn bleiben und lässt sich im Winter, obwohl er nicht Schifahren kann, die Schier anschnallen und zum Gaudium aller Beteiligten zu einer Höllenfahrt den Steilhang hinunter überreden. Er fährt mit einem alten, schweren Bauernschlitten beim Schlittenrennen als Lachnummer mit, schlürft rohe Eier, bis ihm schlecht wird, steigt auf jeden überfüllten Karren und jeden Baum, wenn er darum gebeten wird. Er trinkt über die Maßen, weil er an das Maßvolle nicht glaubt, weil er, seit er denken kann, nur mit Übertretungen, Übertreibungen und Maßlosigkeiten des Lebens zu tun hat. Zu Hause scheint ihn jede Kleinigkeit zu verunsichern, zu verärgern oder zur Verzweiflung zu treiben. Er verliert rasch die Geduld. Wenn er etwas nicht versteht oder ihm widersprochen wird, schweigt er tagelang.

Nach Großmutters Tod hört er auf, über seine Selbstmordabsichten zu sprechen. Die Zerstörungswut, die Vater vorher nach innen richtete, entlädt sich nunmehr nach außen. Im betrunkenen Zustand wird sein Körper ein Instrument, das schrille, ohrenbetäubende Schreie hervorbringt. Aus seinem drahtigen Brustkorb schnellt seine Stimme in allen möglichen Tonlagen und in jeder nur erdenklichen Intensität hervor. Sein Toben erinnert an Schreie eines zum Tode Verurteilten. Er läuft in diesem Zustand von Raum zu Raum oder verschanzt sich hinter dem Küchentisch, auf den er einschlägt. Er droht, er werde uns schon zeigen, was er wert sei, wir Kinder und die Mutter wollten doch nichts anderes als ihn zu vernichten. Er macht seinen Beklemmungen Luft, schleudert uns seine Wut als Wortsteinschlag entgegen, der uns unter sich begräbt, aus dem wir uns Stunden später mühsam herausarbeiten müssen.

Vaters Gedanken kreisen um den Tod. Er ist empfänglich für das Zerstörerische. Im Zustand höchster Verausgabung oder wenn er vom Rastocnik kommt, beginnt er von Morden zu phantasieren, die vor, während und nach dem Krieg in unserer Gegend stattgefunden haben. Er schreit,



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.