Eine ganz andere Geschichte by Nesser Hakan

Eine ganz andere Geschichte by Nesser Hakan

Autor:Nesser Hakan [Hakan, Nesser]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-01-31T05:00:00+00:00


Es war eine ungewöhnliche Wanderung, und es waren ungewöhnliche Stunden, die da vor mir lagen. Ich bekam bald das Gefühl, eine Art uraltes Ritual auszuüben, es gab keinen Zeugen, nur die Nacht, die Erde, den Himmel und die Ewigkeit. Im Gegensatz zu dem, was ich den anderen gesagt hatte, trug ich das Mädchen fast bis zu unserem Haus. Das Risiko, sie irgendwo in den Dünen liegen zu lassen und anschließend ganz einfach nicht wieder zurückzufinden, erschien mir viel zu groß, und ich wollte keinen von uns so einem Schnitzer aussetzen. Wenn ich sage, keinen von uns, dann meine ich damit nicht mich und die anderen Schweden, sondern mich und das Mädchen. Ich war noch nicht viele Schritte mit ihr über der Schulter gegangen, da spürte ich bereits eine enge Zusammengehörigkeit mit ihr. Ich lebte, sie war tot, dennoch war sie es, die die Jugend repräsentierte, eine Jugend, die durch unglückliche Umstände eine Erfahrung gemacht hatte, die ich niemals auch nur annähernd begreifen konnte. Sie hatte die Grenze überschritten, die äußerste Grenze, vielleicht befand sich ihre Seele bereits irgendwo anders. Vielleicht hielt sie sogar ein wachsames Auge über uns, wie wir uns langsam und vorsichtig durch die Marschlandschaft bewegten. Um uns herum waren taktvolle Geräusche der diskreten Prozesse der Verwesung und der Geburt zu hören. Der Auftrag erfüllte mich. Ich empfand bald, dass ich eine Art Pflicht erfüllte, eine Pflicht, die vieles abverlangte, von der sich kein anderer aus der Gruppe auch nur einen Begriff machen konnte, und ich spürte eine bittere Dankbarkeit dafür, dass ich derjenige war, dem die Gunst zuteil geworden war, sich um die Beerdigung des Mädchens kümmern zu dürfen, ja, das tat ich. Gleichzeitig lag der Wahnsinn auf der Lauer, er kroch in der lebendigen Dunkelheit auf leichtem Fuß hinter uns her, war vor uns und um uns herum, es war nichts, was mich irgendwie erschreckte, es war eine Realität. Ein möglicher Ausgang dieser Wanderung, das war mir klar, konnte sein, dass wir, das Mädchen und ich, uns einfach hinlegen und von dieser alles verzehrenden Wachstumskraft überreden lassen könnten. Dass ich ihr auf ihrer letzten Reise folgen könnte. Wir waren jetzt in das Überschwemmungsland selbst gekommen, der schwere Geruch von stehendem Wasser und undurchdringliches Grün umgab uns von allen Seiten, und ich dachte, dass es vielleicht, aber auch nur vielleicht, eine Art Liebesakt wäre, einfach mit ihr gemeinsam in das morastige, warme Wasser zu sinken und sich Kräften zu überlassen, die so viel stärker und so viel ursprünglicher waren als unsere eigenen.

Doch ich blieb nicht stehen. Es kam nicht dazu, stattdessen ging ich mühsam weiter. Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. Meine Wanderungen der letzten Tage hatten mich gelehrt, so etwas wie Pfade zwischen dem Morast zu finden, und nach einem Zeitraum, den ich im Nachhinein auf weniger als eine Stunde schätze, war ich zu einer Wegkreuzung gekommen, von der aus ich Eriks Haus erkennen konnte. Er hatte eine Außenlampe angeschaltet, sonst war alles dunkel. Vorsichtig befreite ich mich von dem toten Mädchen, lehnte sie behutsam in halbsitzende Stellung gegen einen Baum, ungefähr zwanzig Meter vom Haus entfernt.



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