Ein Glückskind. Wie ich als kleiner Junge Auschwitz überlebte und ein neues Leben fand by Thomas Buergenthal

Ein Glückskind. Wie ich als kleiner Junge Auschwitz überlebte und ein neues Leben fand by Thomas Buergenthal

Autor:Thomas Buergenthal [Buergenthal, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104033587
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-06-05T16:00:00+00:00


Ein neuer Anfang

Nachdem wir wieder miteinander vereint waren, sprachen wir tagelang über all das, was uns während der zweieinhalb Jahre unseres Getrenntseins zugestoßen war. Ich erfuhr, dass sie im Herbst 1944 von Auschwitz in das berüchtigte Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, etwa neunzig Kilometer von Berlin entfernt, gekommen war. Gegen Ende April 1945 wurde Ravensbrück vor den anrückenden sowjetischen Truppen von der SS evakuiert. Meine Mutter und alle anderen Insassinnen des Lagers, die in der Lage waren zu gehen, mussten in westlicher Richtung marschieren, bis sie Malchow erreichten, ein Außenlager von Ravensbrück. Viele der Frauen starben während dieses Marsches. Am 28. April 1945 wurde Malchow von sowjetischen Truppen befreit. Es war eine Ironie des Schicksals, dass meine Mutter zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als sechzig Kilometer von mir entfernt war, doch bis wir uns wiedersahen, sollte es noch anderthalb Jahre dauern.

In der ersten Woche nach ihrer Befreiung fand meine Mutter zusammen mit einer kleinen Gruppe von Freundinnen ein wenig Ruhe in diversen verlassenen deutschen Häusern, auf die sie stießen. Sie konnten sich Kleider und Nahrung beschaffen, die sie brauchten. Da all diese Frauen, außer meiner Mutter, aus Polen stammten, beschlossen sie, so bald wie möglich nach Hause zurückzukehren, in der Hoffnung, überlebende Angehörige zu finden. Meine Mutter ging mit ihnen. Sie wollte nach Kielce gelangen, weil sie mit meinem Vater ausgemacht hatte, dass sie sich dort treffen würden, falls sie den Krieg überlebten. Ihre Annahme, dass auch andere Überlebende des Ghettos von Kielce dorthin zurückkehren würden, erwies sich als richtig, und sie hoffte, von ihnen Informationen über meinen Vater und mich zu erhalten, falls wir nicht schon in Kielce waren.

Nach einer grauenvollen Reise, die sie zu Fuß, in LKWs und Zügen zurücklegte und die fast zwei Wochen dauerte, erreichte sie Kielce. Sie hatte kein Geld und nur so viel Nahrung, wie sie unterwegs von Bauern erbetteln oder auf sonstige Weise ergattern konnte, und als sie die Stadt erreichte, war sie völlig erschöpft. Nachdem die kleine Gruppe der Freundinnen sich aufgelöst hatte, musste sie ständig auf der Hut sein, damit man sie nicht für eine Deutsche hielt. Da sie nur sehr wenig Polnisch sprach, beschloss sie, sich als Ungarin auszugeben, wenn man sie nach ihrer Herkunft fragte. Allerdings sprach sie kein Wort Ungarisch, und sie konnte nur hoffen, dass niemand auf die Idee kam, sie in dieser Sprache anzusprechen. Was das betraf, hatte sie Glück, doch bei einer Gelegenheit kam ihre wahre Herkunft doch ans Licht. Und zwar, als ihr jemand auf der Ladefläche eines überfüllten LKWs auf den Fuß trat. In diesem Moment entschlüpfte ihr unwillkürlich ein harmloser deutscher Fluch. Bevor sie etwas dagegen tun konnte, wurde sie vom Rand der Ladefläche gestoßen und musste sich glücklich schätzen, dass sie nicht verprügelt wurde oder ihr noch etwas Schlimmeres widerfuhr.

In der Zwischenzeit waren einige Dutzend Überlebende nach Kielce zurückgekehrt und hatten eine jüdische Gemeinde gegründet. Meine Mutter wurde mit offenen Armen aufgenommen, da die meisten dieser Leute sie vom Arbeitslager und der Henryków-Fabrik her kannten. Nun hatte sie ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, und sie fing an, Erkundigungen über meinen Vater und mich einzuholen.



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