Ein dunkler Sommer by Nommensen Thomas

Ein dunkler Sommer by Nommensen Thomas

Autor:Nommensen, Thomas [Nommensen, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-10T04:00:00+00:00


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Mittwoch, 25. Juli, später Vormittag

Gregor Harms

Er ist für sein Vorhaben nach Kiel gefahren. Hat sich durch das Getümmel der Passanten in der Holstenstraße gequält und steht jetzt vor dem mehrstöckigen Gebäude in der Fußgängerzone.

Hier inmitten der Großstadt scheint die Hitze noch schlimmer zu sein als in Nordermühlen. Die Wärme hat sich in den Schluchten zwischen den mehrstöckigen Gebäuden eingenistet, und auf den großen Kreuzungen steht die Luft flirrend über dem Asphalt. Nur durch die Querstraßen, die in Richtung Fährhafen und Förde verlaufen, weht ab und zu eine leichte Brise.

Rote Schrift auf weißem Grund. Das große Logo mit dem Buchsymbol ziert alle Fenster in der ersten Etage, während in der weitläufigen Schaufensterfront vor ihm auf riesigen Plakaten Werbung für einen Vampirroman gemacht wird.

Die Glastür öffnet sich mit einem schwachen Fauchen. Ein leichter Geruch nach Druckerschwärze und Papier schlägt ihm entgegen. Er liebt diese Duftmischung, obwohl er kein großer Freund des Lesens ist. Aber er mag Buchhandlungen. Den kleinen Laden am Markt in Nordermühlen hat er regelmäßig nach Neujahr aufgesucht, um sich dort die reduzierten Fotokalender anzusehen und nebenbei in teuren Kunstbänden zu blättern. Soweit er sich erinnern kann, hat er allerdings nie etwas gekauft.

Die Art von Literatur aber, die er heute kaufen will, würde er in dem überschaubaren Angebot der Nordermühler Buchhandlung sicher nicht finden, ganz zu schweigen von der Fachkompetenz, die für eine gezielte Beratung zu diesem Thema nötig ist.

Ein beleuchtetes, mannshohes Plexiglasschild weist die verschiedenen Abteilungen aus.

Medizinische Fachliteratur.

Harms nimmt die breite Treppe in die erste Etage. Psychologie. Neurologie.

Auf meterlangen Regalen, Buchrücken an Buchrücken, stehen die Bände dicht gedrängt. Tische mit Bücherstapeln, wie man sie aus den belletristischen Abteilungen kennt, fehlen hier völlig.

Harms schlendert die Reihen entlang, streicht im Vorbeigehen mit dem Finger über die aufgedruckten Titel, zieht das eine oder andere Werk hervor, liest den Klappentext.

Er weiß nicht recht, worauf er achten soll. Die Inhaltsangaben strotzen vor medizinischen Fachbegriffen, die Inhaltsverzeichnisse sind lang, offenbar fein gegliedert, aber für ihn dennoch nichtssagend. Bücher für Fachleute, Menschen mit medizinischen Vorkenntnissen. Dabei sucht er doch einen Ratgeber, mit dem er sich genau dieses Wissen aneignen kann. Wie sind seine Symptome einzuordnen? Wie ist der weitere Verlauf? Kann ich es aufhalten oder verzögern? Kann es ein Arzt? Wie viel Zeit bleibt mir?

«Kann ich Ihnen helfen?» Die Verkäuferin ist jung, der Haarschnitt streng. Sie trägt eine altmodische Nickelbrille und erinnert Harms an eine Theologiestudentin, die er Ende der siebziger Jahre kannte. Mara oder Maja. Ein besonderer Name jedenfalls. Verhuscht war sie, trotz ihrer Jugend, hatte glänzende Abiturnoten, ebenso phantastische Ergebnisse im Studium, aber noch nie eine Nacht mit einem Mann verbracht.

«Was suchen Sie denn genau?» Die Frau ist sehr klein, muss den Kopf weit in den Nacken legen, um ihn anzusehen.

Harms sucht nach Worten. Noch könnte er einfach gehen. Sagen, dass es sich erledigt hat. Aber will er das wirklich? Schließlich ist er ja wegen seiner zunehmenden Angst hierhergekommen. Angst, immer vergesslicher zu werden und der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen zu können.

«Demenz», sagt er zögernd. Seine Lippen öffnen sich kaum merklich, und das Wort klingt fast wie ein zufällig ausgestoßener Laut.



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