Ediths Tagebuch by Highsmith Patricia

Ediths Tagebuch by Highsmith Patricia

Autor:Highsmith, Patricia [Highsmith, Patricia]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 9783257603958
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-11T16:00:00+00:00


[265] 20

Edith eilte in der eisigen Januarkälte den Gehsteig entlang, sorgfältig darauf bedacht, nicht auf einer vereisten Stelle auszurutschen. Es lag kein Schnee. Sie trug Fäustlinge und drückte ihren dicken Wollschal mit einer Hand an Nase und Wangen. Sie war auf dem Weg zu einer Gemeinderatssitzung, die aber, weil das Rathausdach zur Zeit repariert wurde, in der Unitarierkirche stattfand. Thema waren die Schulsteuern von Bucks County, die erhöht werden sollten. Die angekündigten Proteste hielt Edith von vornherein für aussichtslos. Es war lausig kalt und jetzt um halb sieben schon dunkel, und ständig ging ihr dieser schreckliche Song im Kopf herum, der zuvor aus Cliffies Radio gedröhnt hatte: »I’m so lonely with – ow-chew!«

Als Edith das Haus verließ, war die Musik allerdings abgestellt, und Cliffie telefonierte, vermutlich mit Mel. Sie hätte es nicht mitbekommen, wäre sie nicht nach den ersten paar Schritten noch einmal umgekehrt, um sich einen dickeren Schal zu holen. Sie wußte, daß Cliffie unter Mels Fittiche zurückwollte, denn dort hatte er zum ersten und einzigen Mal so etwas wie Geborgenheit empfunden.

Charles und Mary Bell, die an der Ecke gerade aus ihrem Auto stiegen, unterbrachen sie in ihren Gedanken.

[266] »Hallo, Edith.«

»Hallo! Auch auf dem Weg zur Versammlung?« sagte Charles Bell.

Edith begrüßte die beiden freundlich, obwohl sie sie kaum kannte.

An der weißen Kirchenfassade brannten Lichter, die unter dem schwarzen Walmdach Schatten warfen. Autos überall. Die Leute begrüßten sich, und auf dem Weg zur Tür sagte Edith alle paar Sekunden: »Hallo! Guten Abend.« Sie mußte an Jackie Kennedy denken, jetzt Jackie Onassis. Als Edith das letzte Mal unter Menschen gewesen war – wo eigentlich? –, hatten sich alle darüber ereifert, daß Jackie nach JFK einen milliardenschweren Industriemagnaten geheiratet hatte. »Wenn man sich vorstellt, daß sie jetzt mit diesem Menschen lebt!« – »Das ist eine Beleidigung für Amerika!«, und so weiter. Edith fand es keineswegs überraschend, da Jackie ihrer Ansicht nach eine Vorliebe für Macht und Geld hatte, was ja zusammenhing. Doch sie wußte, was die anderen daran störte: Sie hatten bei Jackie eine Ähnlichkeit mit JFK sehen wollen, hatten sich von ihr eine uramerikanische Form von Idealismus erhofft, und daß diese Hoffnung enttäuscht worden war, empörte sie. Edith suchte sich einen Platz in einer der geräumigen Kirchenbänke. Erst da bemerkte sie Gert Johnson schräg links hinter sich, da diese in dem Moment aufstand, um jemanden zu begrüßen.

Der Vorsitzende, dessen Name Edith entfallen war, bat um Ruhe. Er begann mit seiner Ansprache, umriß das Thema, erläuterte die Situation, die gerechtfertigten Einwände der Bürger, die der Meinung waren, sie zahlten [267] bereits genug Steuern, und obendrein womöglich gar keine Kinder hatten. Edith zog ihre Fäustlinge aus und bewegte ihre Zehen in den Stiefeln. Sie taten allmählich weh.

Aus der Bank hinter Edith kam ein weitschweifiger Beitrag von einem Mann. Jemand war aufgestanden, um etwas zu sagen. Leises Lachen ertönte, kaum hörbar.

Mein Gott, sieht diese Kirche trist aus! dachte Edith. In dem Bestreben, Heiligenbilder und vergoldete Säulen zu vermeiden, hatte man hier eine sauber angestrichene Scheune aufgestellt. Gähnende Leere. Fülle sie mit deinen eigenen Gedanken. Eine schwarze Kanzel, nur leicht erhöht, und schwarze Fensterrahmen an schneeweißen Wänden.



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