Die verschwundene Bibliothek des Alchimisten by Marcello Simoni
Autor:Marcello Simoni [Simoni, Marcello]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863586287
veröffentlicht: 2014-10-19T16:00:00+00:00
22
Die Glocken von Fontfroide hatten gerade zur Non gerufen, und in der Abtei intonierten die Mönche die Psalmen. Plötzlich wurden die Flügel des Eingangsportals aufgestoßen, und ein Strahl der Nachmittagssonne zerriss das Halbdunkel der Kirchenschiffe. Die Brüder unterbrachen ihren Gesang und schauten überrascht zum Eingang, wenig später sahen sie, wie sich dort die Gestalt eines Mannes mit blonden Haaren im Gegenlicht abzeichnete. Er schritt entschlossen vorwärts, die Hände zu Fäusten geballt, seine Augen funkelten zornig. Nicht einmal der ehrwürdige Abt Guarin wagte es, ihm entgegenzutreten.
Der Fremde baute sich mitten im Hauptschiff auf und sah lauernd in die Runde wie ein Raubtier. Nachdem er die Mönche, die sich in den Bänken drängten, einen nach dem anderen gemustert hatte, rief er mit lauter Stimme: »Frenerius de Gignac soll vortreten!«
Ein überraschtes Raunen ging durch die Reihen der Mönche. Keiner sagte ein Wort.
Der Eindringling wartete ein paar Augenblicke ab, dann rief er wieder durch die Stille: »Frenerius de Gignac habe den Mut, zu seinen Taten zu stehen. Er soll vortreten!«
Kaum war das Echo seiner Worte verklungen, hörte man ein Flüstern. Der Fremde wandte sich ebenso wie viele der Mönche in die Richtung, aus der es gekommen war, und sah, wie ein Mönch einem Mitbruder etwas ins Ohr flüsterte. Mit einem Satz war der Blonde bei ihm und packte ihn an der Kutte. »Seid Ihr Frenerius?«, knurrte er ihn an.
»Nein, nein …«, stammelte der Unglückselige zitternd. »Der da ist es, der da …« Und er zeigte auf seinen Banknachbarn.
Der Fremde ließ den Mann los und funkelte den anderen Mönch wütend an. »Ihr seid also Frenerius de Gignac.«
Der Angesprochene war ein unscheinbares Männlein mit einem blassen Gesicht und einer unter verfilzten kastanienbraunen Haaren kaum noch auszumachenden Tonsur. Entgegen allen Erwartungen stand er trotzig auf. »Ja, das bin ich. Ihr solltet mich aber ›Vater‹ nennen, denn ich bin kein Bauer, sondern ein Geistlicher.«
»In meinen Augen seid Ihr bloß ein Mann oder noch weniger als das«, entgegnete der Fremde und durchbohrte den Mönch mit Blicken. »Ihr müsst Euch für ein schweres Vergehen verantworten.«
Frenerius errötete und gab damit zu erkennen, dass sein Gewissen belastet war, doch er bekämpfte seine Verlegenheit mit überlauter Stimme: »Ihr könnt mir nichts vorwerfen. Mein ganzes Tun gilt dem Herrn.«
»Elendiger Lügner, Ihr habt ein Mädchen vergewaltigt! Und ganz gleich, ob im Namen des Herrn oder Satans, jetzt werdet Ihr dafür bezahlen!« Mit diesen Worten packte der Fremde den Mönch bei den Haaren, und trotz seiner Wunde an der Schulter zerrte er ihn aus der Bank und schleuderte ihn zu Boden.
Die Mönche, die sich um das Geschehen versammelt hatten, wichen erschrocken zurück in den Schutz der mächtigen Säulen. Der Eindringling beachtete sie gar nicht, sondern zückte den Krummsäbel, den er an seiner Seite trug, und presste die Klinge seinem Opfer an die Kehle.
»Um Gottes willen …«, stammelte Frenerius mit schriller Stimme.
»Gesteht Eure Schuld!«, herrschte ihn Willalme an.
»Sie war es, sie hat mich mit einem Zauber verführt«, wehrte sich der Mönch. »Diabolica mulier, magistra mendaciorum, homines seducit libidini carnis –«
»Schweig!« Willalme zog den Geistlichen auf die Knie hoch und schlug ihm mit der flachen Klinge auf den Hintern.
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