Die vergessene Frau - Roman by Blanvalet-Verlag <München>

Die vergessene Frau - Roman by Blanvalet-Verlag <München>

Autor:Blanvalet-Verlag <München>
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Blanvalet-Verlag <München>
veröffentlicht: 2013-02-13T16:00:00+00:00


DRITTER TEIL

1960–1962

Schmerzhafte Lektionen

»Die Erfahrung ist ein strenger Lehrer, denn sie stellt die Prüfung vor die Lektion.«

VERNON LAW, BASEBALLPITCHER IN DER MAJOR LEAGUE (*1930)

Kapitel 29

Februar 1960

Eines Morgens, ein paar Wochen vor Caras dreizehntem Geburtstag, wollte Granny Theresa nicht aufwachen.

Zwei Monate zuvor war Franny gestorben. Da niemand von Cara wusste, hatte sie erst aus der Zeitung, die alle vierzehn Tage aus dem Ort gebracht wurde, vom Tod ihrer Mutter erfahren. Es war nur ein kleiner Artikel gewesen, in dem über die Beisetzung berichtet wurde. Cara hatte überrascht festgestellt, dass sie nicht weinen musste, auch weil sie sich weigerte, um die Mutter zu trauern, die sie erst im Stich gelassen und danach vergessen hatte. Sie versteckte den Artikel vor ihrer Großmutter, weil sie die ohnehin verwirrte Theresa nicht zusätzlich beunruhigen wollte.

Im Lauf der Jahre hatten Cara und ihre Großmutter eine feste Routine entwickelt. Theresa erwachte allmorgendlich als Erste, meist schon gegen fünf Uhr, eine Angewohnheit, die sie während der vielen Jahre auf der Farm angenommen hatte. Falls sie einen ihrer guten Tage hatte, stand sie auf, fütterte die Ziege, melkte die Kuh und machte Feuer im Herd, damit das schlichte Frühstück aus Haferbrei und aufgewärmtem Tee fertig war, wenn Cara ein paar Stunden später aufstand. Wie üblich war Cara auch an diesem besonderen Morgen um sieben aufgewacht. Doch sie hatte sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Von unten war nichts zu hören. Im ganzen Haus war es totenstill.

Sie ging zum Zimmer ihrer Großmutter. Auch dort war nichts zu hören. Sie klopfte an die Tür und rief, aber niemand antwortete. Instinktiv wusste sie, dass etwas Schlimmes passiert war. Als Cara die Tür aufschob, sah sie, dass Theresa immer noch im Bett lag, das Gesicht dem Fenster zugewandt, die gemusterte Decke bis zum Hals hochgezogen.

»Gran?«, fragte sie zaghaft, da sie hoffte, dass Theresa nur verschlafen hatte. Als sie keine Antwort bekam, trat sie näher und fragte lauter: »Granny?«

Auch diesmal reagierte Theresa nicht. Zaghaft griff das Mädchen seine Großmutter an der Schulter. Selbst durch das Baumwollnachthemd spürte Cara, wie steif und kalt ihre Nan war.

Nein, dachte sie. Das durfte einfach nicht passieren.

»Gran?« Cara hörte selbst, wie verängstigt sie klang. Sie rüttelte ihre Großmutter fester. »Gran? Wach auf!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte, bitte wach auf«, flehte sie.

Sie stieß jetzt ihre Großmutter so fest, dass Theresa auf den Rücken rollte. Cara schnappte erschrocken nach Luft und schlug die Hände vor ihren Mund, als sie ihrer Gran ins Gesicht sah: in die leeren, an die Decke starrenden Augen; die offene Front ihres Nachthemdes, aus dem eine welke Brust hing.

Entsetzt fiel Cara auf die Knie und begann das Vaterunser zu rezitieren.

»Vater unser, der du bist im Himmel …«

Vielleicht würde Gott ihr die Großmutter zurückgeben, wenn sie nur genug betete.

Zwei Stunden kniete sie betend neben dem Leichnam. Bis dahin war Cara überzeugt, dass Gott nicht vorhatte, ihre Gebete zu erhören. Erst da erlaubte sie sich zu weinen. Granny Theresa war vielleicht eine kühle und schroffe Frau gewesen, doch sie war während der letzten Jahre der einzige Mensch in Caras Leben gewesen.



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