Die uralte Metropole 01 - Lycidas by Marzi Christoph

Die uralte Metropole 01 - Lycidas by Marzi Christoph

Autor:Marzi, Christoph [Marzi, Christoph]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-03-08T05:00:00+00:00


Kapitel 12

Lilith

»Wir haben uns um dich gesorgt«, schimpfte Aurora, als Emily am späten Abend zum Streatley Place No. 7 heimkehrte.

»Tut mir Leid. Wirklich.«

Dabei tat es ihr eigentlich gar nicht Leid.

Durfte sie nicht selbst über ihr Leben bestimmen?

»Hat Wittgenstein sich nach mir erkundigt?«

»Den habe ich selten so verdutzt gesehen.«

Was ich bestätigen kann.

»War er beleidigt?«

Aurora überlegte nur kurz. »Nein. Eigentlich war er so, wie er immer ist.«

Damit konnte Emily leben.

Neil und sie hatten noch einige Zeit am Südufer der Themse unten in Greenwich verbracht. Schweigend und sich an den Händen haltend, will ich anmerken. Dann, als der Regen wirklich ungemütlich geworden war, hatten sie die Docklands Light Rail genommen, waren schließlich in die U-Bahn umgestiegen und bis zum Bahnhof Whitechapel gefahren. Dorthin, wo alles begonnen hatte. Damals, vor so langer Zeit. Emily und Neil hatten das Eastend zu Fuß durchquert. Irgendwie war beiden nach einem längeren Spaziergang zumute gewesen.

Fasziniert hatte Emily die Gegend betrachtet und in Gedanken das rostige Rad der Zeit zurückgedreht.

Schon immer hatten Arbeiter hier gelebt. In den frühen Achtzigerjahren war das Eastend endgültig heruntergekommen und verwahrlost. Die schmalbrüstigen Häuser wirken blass und kränklich. Muffige Werkstätten, in denen auf engem Raum und bei trübem Licht im Akkord genäht wird, säumen die Straßen. Lederjacken sind nach wie vor die Spezialität des Viertels. Das auffälligste Gebäude an der Whitechapel Road ist die prächtige Moschee, die mit saudischen Geldern errichtet wurde. Dahinter findet man in der Fieldgate Street die große Synagoge, die alle schlimmen Zeiten überdauert hat. Es ist immer irgendwo Markt in dieser Gegend. Händler verkaufen islamisches Schriftgut und Kleidung für fromme Männer. Whitechapel ist ein Schmelztiegel der Nationen. Inder, Juden, Araber, Osteuropäer. Hier sind alle vertreten. Es ist eine fremdartige Welt. Nicht einmal Englisch wird gesprochen. Die geläufige Straßensprache von Whitechapel ist eine kunterbunte Mischung aus den Sprachen vieler Länder. City Speak hatte Neil diesen Dialekt genannt.

»Hier hat es begonnen«, flüsterte Emily.

Unbehelligt gingen die beiden ihres Weges, der sie westwärts in Richtung der City führte.

Noch immer hielt Emily Neils Hand.

Warum? Das vermochte sie selbst nicht zu sagen.

»Auch vor hundert Jahren schon haben hier die Ausgestoßenen gelebt«, hatte Neil gesagt. »Arme, Arbeiter, Arbeitslose und Ausländer. Whitechapel war im Grunde so etwas wie ein Ghetto.«

Emily versuchte sich die Straßen von damals vorzustellen, wie flackernde Gaslaternen das schmutzige Pflaster dürftig erhellten, wie Droschken und Zweispänner die Straße entlangfuhren und Fußgänger durch die Dunkelheit eilten, emsig bemüht, dem stinkenden Unrat auszuweichen.

»Jack the Ripper hat hier sein Unwesen getrieben«, flüsterte Neil so leise, als hätte er Angst, dass einer der Passanten ihr Gespräch belauschen könnte.

Emily dachte an den Golem.

Tief unten in der Region.

Was genau, fragte sie sich erneut, war während der Aufstände geschehen? Welche Bevölkerungsgruppen hatten sich gegen wen erhoben? Was hatte die Kaste der Ratten mit all dem zu tun gehabt, und welche Rolle hatten die Black Friars gespielt?

»Woran denkst du?«, wollte Neil wissen.

Ein Obdachloser hielt ihnen eine Blechdose entgegen.

Beide Kinder beschleunigten ihre Schritte.

»An Jack the Ripper«, gab Emily wahrheitsgemäß zur Antwort und ging eiligst an dem nach billigem Fusel und Leim stinkenden Penner vorbei. »Daran, was hier geschehen ist.



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