Die Seele des Menschen. Ihre Fähigkeit zum Guten und zum Bösen by Erich Fromm
Autor:Erich Fromm [Fromm, Erich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbuch
ISBN: 9783959120043
Herausgeber: Open Publishing
veröffentlicht: 2014-12-11T23:00:00+00:00
5 Inzestuöse Bindungen
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mit zwei Orientierungen – der Nekrophilie und dem Narzissmus – befasst, die sich in ihren extremen Formen gegen Leben und Wachstum auswirken und Streit, Destruktion und Tod heraufbeschwören. In diesem Kapitel möchte ich mich mit einer dritten Orientierung, der inzestuösen Symbiose, beschäftigen, die in ihrer bösartigen Form zu ähnlichen Resultaten führt wie die beiden zuvor diskutierten Orientierungen.
Auch hier möchte ich von einem zentralen Begriff der Freudschen Theorie ausgehen, von der inzestuösen Bindung an die Mutter. Freud hielt diese Bindung für einen der Ecksteine seines wissenschaftlichen Gebäudes, und auch ich halte seine Entdeckung der Mutterbindung tatsächlich für eine sehr weitreichende in der Wissenschaft vom Menschen. Allerdings hat Freud auch auf diesem Gebiet, ebenso wie in den bereits erörterten Bereichen, seine Entdeckung und deren Konsequenzen dadurch beeinträchtigt, dass er sich gezwungen sah, sie in seiner Libido-Theorie unterzubringen.
Freud war die außerordentliche Energie aufgefallen, mit der die Bindung des Kindes an seine Mutter geladen ist, eine Bindung, die der Durchschnittsmensch nur selten ganz überwindet. Freud hatte beobachtet, dass sie die Fähigkeit des Mannes, mit Frauen Verbindungen einzugehen, beeinträchtigt, dass sie seine Unabhängigkeit vermindert, und dass der Konflikt zwischen seinen bewussten Zielen und seiner verdrängten inzestuösen Bindung zu verschiedenen neurotischen Konflikten und Symptomen führen kann. Freud glaubte, dass die der Mutterbindung zugrunde liegende Kraft beim kleinen Jungen die genitale Libido ist, die ihn veranlasst, seine Mutter sexuell zu begehren und seinen Vater als sexuellen Rivalen zu hassen. Angesichts der überlegenen Stärke seines Rivalen verdrängt der kleine Junge jedoch seine inzestuösen Wünsche und identifiziert sich mit den Geboten und Verboten des Vaters. In seinem Unbewussten leben die verdrängten inzestuösen Wünsche jedoch weiter, mit großer Intensität jedoch nur in pathologischen Fällen.
Was das kleine Mädchen betrifft, so hat Freud (1931b) eingeräumt, dass er die Dauer seiner Mutterbindung zuvor unterschätzt hatte. Er sagte jetzt: „diese Mutterbindung (...) nahm also den bei weitem längeren Anteil der sexuellen Frühblüte ein. (...) Die prä-ödipale Phase des Weibes rückt hiermit zu einer Bedeutung auf, die wir ihr bisher [II-225] nicht zugeschrieben haben“, und er hält es für erforderlich, „die Allgemeinheit des Satzes, der Ödipuskomplex sei der Kern der Neurose, zurückzunehmen“ (S. Freud, 1931b, S. 518). Er fügt jedoch hinzu, wenn jemandem diese Korrektur widerstrebe, so brauche er sie nicht notwendigerweise zu übernehmen, denn „einerseits kann man dem Ödipuskomplex den weiteren Inhalt geben, dass er alle Beziehungen des Kindes zu beiden Eltern umfasst, andererseits kann man den neuen Erfahrungen auch Rechnung tragen, indem man sagt, das Weib gelange zur normalen positiven Ödipussituation erst, nachdem es eine vom negativen Komplex beherrschte Vorzeit überwunden“ habe. Abschließend stellt er fest: „Die Einsicht in die prä-ödipale Vorzeit der Mädchen wirkt als Überraschung, ähnlich wie auf anderem Gebiet die Aufdeckung der minoisch-mykenischen Kultur hinter der griechischen“ (S. Freud, 1931b, S. 519). In diesem letzten Satz räumt Freud mehr implizit als explizit ein, dass die Mutterbindung als früheste Entwicklungsphase beiden Geschlechtern gemeinsam ist und dass sie mit matriarchalischen Merkmalen der vorhellenischen Kultur zu vergleichen ist. Aber er hat diesen Gedanken nicht zu Ende gedacht.
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