Die schwarze Kathedrale by Charles Palliser
Autor:Charles Palliser
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2010-10-29T15:42:44.968000+00:00
Donnerstag abend
Wir eilten zur Kathedrale, und als wir eintraten, stellten wir fest, daß der Abendgottesdienst gerade beendet war. Daher setzten wir uns nicht, sondern blieben hinter den Bänken stehen und hörten dem Orgelspiel zu, dem Schluß einer Fuge von Bach. Der Gestank war noch erheblich aufdringlicher als am Tag zuvor, und obwohl es in der Kathedrale sehr kalt war, stieg mir der Geruch warm in die Nase. Ich war sehr froh, daß wir nicht lange bleiben wollten.
Der Pfarrer, die Ministranten und der Chor verließen den Altarraum, und die kleine Gemeinde zerstreute sich. Wir blieben stehen und sprachen leise miteinander, bis nach ein oder zwei Minuten plötzlich ein Mann neben uns auftauchte. Er mußte unbemerkt von der Ostseite der Kathedrale herkommen sein.
»Das ist Mr. Slattery«, stellte Austin ihn vor, »Martin Slattery.«
Er war hochgewachsen, etwa fünfzehn Jahre jünger als wir und hatte ein sehr auffälliges Gesicht – schön, verwöhnt und anspruchsvoll. Sein glattes schwarzes Haar war straff zurückgekämmt und glänzte wie ein Fell. Insgesamt wirkte er auf mich wie ein wildes Tier, und mir fiel ein Ausdruck ein, der gewöhnlich nur für Jagdhunde verwendet wird: Er sah aus, als sei er ständig am Passen. Mit seinen starren blauen Augen suchte er mein Gesicht nach etwas ab, das für ihn von Vorteil sein oder eine Bedrohung darstellen könnte. Ich hatte den Eindruck, daß er sicher ungemein charmant sein konnte, aber er hatte auch etwas an sich, das in mir die Überzeugung weckte, er sei zu allem fähig. Aber ich hatte natürlich auch allen Grund, Austins Freunden zu mißtrauen.
Slattery war ein großer Mann, doch die Hand, die er mir nachlässig entgegenstreckte, war erstaunlich zart. Sein Händedruck war fest, und ich war erleichtert, als er meine Hand schnell wieder freigab.
»Ich bedaure sehr, daß ich Ihnen nur ein oder zwei Minuten lang zuhören konnte«, sagte ich.
»Ich habe heute abscheulich gespielt«, antwortete er mit einem gewinnenden Lächeln. »Sie haben also nichts versäumt.«
Sein Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hatte es vor kurzem gesehen, konnte mich aber nicht erinnern, wo.
»Das ist ganz gewiß nicht wahr«, murmelte ich gedankenlos. »Ich versichere Ihnen, daß ich schlechter gespielt habe als je zuvor in dieser Kathedrale. Ich konnte mit meinen Händen nichts anfangen. Irgendwie hatten sie ihren eigenen Willen.« Er streckte sie von sich, als wolle er sie zur Erhebung der Anklage antreten lassen, aber dann musterte er sie mit ironischem Respekt, der mich seltsam unangenehm berührte. »Ein unverzeihliches Unrecht gegenüber der Orgel.«
»Sie werden sie sicher noch oft spielen, wenn sie wieder in Betrieb ist«, erwiderte ich.
»Das möchte ich bezweifeln.« Bei diesen Worten lächelte er Austin an, der ihn die ganze Zeit angestarrt hatte, nun aber den Blick senkte. In diesem Augenblick sah ich den alten Küster Gazzard nur wenige Meter von uns entfernt stehen und zu uns herübersehen. Er warf mir einen mißbilligenden Blick zu, und als ich ihm zunickte, wandte er sich ab.
»Sollen wir in ein Wirtshaus gehen?« fragte Austin.
Wir stimmten zu und folgten ihm aus der Kathedrale. Austin und ich gingen voraus, und erst als ich mich nach unserem Begleiter umsah, fiel mir auf, daß er unübersehbar hinkte.
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