Die linke Hand by Hannah Tinti

Die linke Hand by Hannah Tinti

Autor:Hannah Tinti
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-05-28T04:00:00+00:00


Kapitel 19

Dolly schlief fest unter einem Ahornbaum, als Ren ihn endlich fand, und sah beinahe friedlich aus. Sein Kopf lehnte an der rauen Rinde, die Kapuze hatte er übers Gesicht gezogen. Es war ein warmer Abend. Die Bäume auf dem Gemeindeanger standen in einer Reihe da wie Bauern auf einem Schachbrett.

Ren rüttelte ihn an der Schulter. Er schrie ihm ins Ohr. Er hielt ihm die Nase zu und patschte ihm auf die Wange, aber Dolly reagierte nicht. Ren setzte sich ins Gras und sah zu, wie die Sonne unterging. Ab und zu spähte er vom Halsausschnitt in Dollys Kutte, um sich zu vergewissern, dass sich seine Brust noch hob und senkte. Er überlegte, wie viele Glieder die tätowierte Kette wohl haben mochte. Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, so viele Gespenster im Nacken zu haben. Es dauerte fast eine Stunde, bis Dolly endlich die Augen aufschlug.

»Wie lang hab ich geschlafen?«

»Ungefähr hundert Jahre«, sagte Ren.

Dolly tastete nach seinen Koteletten. Er setzte sein brüchiges Lächeln auf. »Wieso bin ich dann nicht alt?«

»Bist du ja«, sagte Ren. »Man sieht es nur nicht.«

Als sie sich auf den Heimweg machten, war es auf den Straßen schon dunkel. Dolly folgte Ren wie betäubt, stolperte mehrmals über Ziegelsteine im Gehweg. Ren dirigierte ihn durch eine Gasse und an einem weiteren Häufchen Soldaten vorbei, die rauchend an der Ecke standen. Ihre Uniformen waren schmutzig, die Gewehre hingen lässig über ihren Schultern. Als Ren sich nach ihnen umdrehte, nickte ihm einer der Männer zu, wobei man die Lücken zwischen seinen braunen Zähnen sah, und Dolly gab ihm im Gegenzug seinen Segen.

Als sie zur Pension kamen, war es Nacht geworden. Sie sahen, dass die Fensterläden geschlossen waren. Ren versuchte es an der Hintertür und stellte fest, dass sie nicht abgesperrt war. Das Feuer in der Küche war erloschen. Das Messer und die restlichen Pastetenzutaten lagen noch auf der Anrichte, auch das mit Mehl bestäubte Nudelholz, aber von Mrs. Sands keine Spur. Dolly sah unbewegt zu, während Ren Küchenschübe und Geschirrschränke öffnete und den Kartoffelkorb umdrehte, die Mäntel, die neben der Tür hingen, beiseiteschob und dann polternd die Treppe hinaufrannte.

»Mrs. Sands?«

Ren schaute in den Betten im ersten Stock nach, dann lief er zum nächsten Treppenabsatz hinauf. Er stürzte in das Zimmer der Mausefallenmädchen. Es war so groß, dass vier Bettgestelle darin Platz hatten. An den Wänden hingen Spiegelscherben. Im Schrank lag ihr Sonntagsstaat – die schweren Stiefel und die marineblauen Kleider fehlten. Ren warf ein Döschen Rouge um. Dann rannte er noch eine Treppe zur Mansarde hinauf.

Als auf sein Klopfen hin niemand antwortete, stieß er die Tür auf. Das Zimmer war schmal, mit einer Dachschräge und zwei Dachluken. Unter diesen Fensteröffnungen stand ein altes Feldbett, auf das sich Mrs. Sands, noch in ihrer Küchenmontur, hatte fallen lassen.

Ihr Gesicht war gerötet, der Kragen oben am Hals aufgerissen. Ihre Hände waren voller Mehl. Ren berührte sie an der Schulter. »Mrs. Sands«, flüsterte er. Statt einer Antwort begann sie zu zittern, anfangs leicht und dann immer heftiger, so dass sie beinahe auf den Boden fiel.



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