Die letzten Deutschen (B00919P5J2) by Hans-Dieter Rutsch
Autor:Hans-Dieter Rutsch [Rutsch, Hans-Dieter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644112315
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2012-09-21T04:00:00+00:00
Lisa Pohls Ehemann und ihr Stiefsohn reisten 1956 in die Bundesrepublik aus und durften sie nicht mehr in Polen besuchen. Die Familie konnte sich nur in Tschechien treffen.
Peter Pohl behielt Polen als Jugendlicher im Blick. Lisa gelang es, unter den Bedingungen einer Diktatur ihre Individualität zu bewahren. Sie pflegte ihre deutsche Nische in Polen, empfing Besuche, führte Korrespondenz, veranstaltete Musikabende und Gesprächsrunden bis tief in die Nacht. Sie hatte deutsche Nachbarn, die Frömbergs zum Beispiel. Sohn Rainer war ein Spielfreund von Peter. Vater Frömberg liebte die Literatur über alles, versorgte Lisa mit Büchern und somit die Debatten im Hause Pohl mit Gesprächsstoff. Als die Familie Frömberg ebenfalls in den Westen ging, war das ein großer Verlust für Lisa Pohl. Aus Köln schickten sie, wann immer es ging, Bücher aus ihrem Buchladen am Hauptbahnhof nach Wolfshau. Lisa konnte ihre Kontakte und Freundschaften pflegen, reiste als Rentnerin schließlich in die Bundesrepublik und von dort weiter nach Paris oder Italien. So einsam Wolfshau war, so angefüllt war das Leben im Haus von Lisa Pohl. Es gibt Fotos, die Lisa als eine würdige Dame in klassischem Sommerkleid zeigen, sie sitzt mit elegantem Sommerhut auf der Bank vor ihrem Haus und strahlt Zufriedenheit aus.
Nach 1989 wird sie von Journalisten entdeckt, von polnischen und deutschen – eine zweifelhafte Erfahrung. Lisa spürt, dass ihr Neugier entgegengebracht wird, aber nur wenig Verständnis. Sie fühlt sich falsch verstanden, wenn sie sagt, sie habe in Wolfshau in Frieden leben können, weil sie ihrer Umwelt freundlich gesinnt war: Ihr sei das kommunistische Regime zunehmend gleichgültig geworden; sie habe sich ihm weder angepasst noch dagegen aufbegehrt. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, zwischen ihren Möbeln, ihren alten Tellern an den Wänden, mit ihrem Flügel, ihrer Musik und ihren Büchern und Nachbarn, die gerne zu ihr gekommen seien. Doch warum sie in Polen geblieben war, wollte dann so genau doch kaum einer der neuen Besucher hören. Als sie 2003 Besuch von der «Frankfurter Allgemeinen» erhält und ihr die irritierende Frage gestellt wird, ob sie denn nie in den Westen wollte, antwortet Lisa Pohl zweideutig: «Im Westen wäre ich jetzt tot.»
Lisa Pohl beschreibt es als ein Glück, dass sie in ihrem Haus bleiben durfte, während andere ihre Häuser verloren haben. Sie hat die Werte gelebt, die ihr lebenswert erschienen, sich nicht für ein System verbogen und auch nicht für einen Wohlstand, der aus stetig wachsendem Überfluss besteht. Sie blieb von Schlesien aus dem Westen gegenüber auf Distanz, hielt fest an Bewährtem und dem, was ihr gut tat. Zum Beispiel auf dem Flügel Chopin zu spielen. Wer bei ihr wohnte, bekam diese Musik täglich zu hören. Zur Kaffeezeit.
1965, als ich mit einem kleinen grünen Rucksack, gefüllt mit Wanderbrot und Regenkleidung, hinter meinem Vater den Melzergrund hinauf am Hause der Pohls vorbeistapfte, hätten wir Lisa Pohl begegnen, ihrer Musik lauschen, ihren Kaffee auf der Terrasse im Garten genießen und ihrem Erzählen zuhören können. Aber wir wussten nichts von ihr. Auch die Gajewskis hatten nichts von ihr erzählt. Sie vermieteten ja an Fremde und wussten nicht, was mit dem Erzählten geschehen würde: Verständlich, dass sie sich bedeckt hielten.
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