Die Kraft des Geistes by Frankfurter Allgemeine Archiv

Die Kraft des Geistes by Frankfurter Allgemeine Archiv

Autor:Frankfurter Allgemeine Archiv
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Zeitung Verlag
veröffentlicht: 2015-07-17T00:00:00+00:00


Kreativität und Kunst

Erst kommt das Denken, dann die Kunst

Kreativität ist die Chance, der vorgefundenen Welt neue Dimensionen hinzuzufügen. Sie lässt uns Lösungen finden und neue Möglichkeiten austesten. Deshalb müssen Gehirne kreativ sein. Aber Kunstwerke werden nicht für den 'Fall, dass' geschaffen. Wozu denn? Die Hirnforschung könnte einiges dazu sagen – in Zukunft.

Von Wolf Singer

Was Kunst ist und will, hat schon viele in Deutungsnöte gebracht. Kunst als Ergebnis eines Schöpfungsaktes zu sehen, der vorgefundener Wirklichkeit etwas Neues hinzufügt, greift sicher zu kurz, denn dann wären auch Wissenschaftler Künstler. Also liegen die Spezifika wohl in den Intentionen des Künstlers, in den transportierten Inhalten und den Wirkungen auf den Rezipienten. Vielleicht geht es darum, Sichtweisen auf die Welt zu verändern, der vorgefundenen Wirklichkeit eine transzendentale Dimension hinzuzufügen und Erfahrungsräume zu erweitern, die nur Kunst zu erschließen vermag. Ich denke, es ist klüger, es bei dieser zirkulären Argumentation zu belassen, mich nicht weiter zu verstricken und darauf zu vertrauen, dass es einen irgendwie gearteten Konsens darüber gibt, wann etwas Geschaffenes Kunst ist.

Einfacher ist es anzugeben, was Hirnforschung will und was sie sicher nicht will. Sie will die neuronalen Mechanismen aufklären, die den kognitiven und exekutiven Funktionen unseres Gehirns zugrunde liegen. Dabei will sie auch die Entwicklung von kognitiven Systemen verstehen, die es Menschen erlaubt haben, der biologischen die kulturelle Evolution hinzuzufügen. Was die Hirnforschung nicht will ist, sich mit Inhalten zu befassen, die in den Bereich von Glauben und Metaphysik fallen. Dazu taugt sie nicht, da Wissenschaft orthogonal zu diesen Welten ist und Behauptungen über die Verfassung dieser Welten weder bestätigen noch widerlegen kann. Da sich Hirnforschung mit den materiellen Grundlagen mentaler und psychischer Phänomene befasst, kann es aber vorkommen, dass sie naturalistische Begründungen anbietet für Phänomene, die bislang ausschließlich als geistige von den Humanwissenschaften behandelt wurden. Die Aufklärung von Mechanismen, die ästhetischen Urteilen zugrunde liegen, wäre so ein Fall.

Für die Untersuchung von Beziehungen zwischen Neurobiologie und Kunst sind naturgemäß jene Forschungsrichtungen besonders relevant, die sich mit den neuronalen Grundlagen von Wahrnehmung befassen und damit epistemische Fragen berühren. Wie konstituieren sich Wahrnehmungen in unserem Gehirn? Welches sind ihre neuronalen Korrelationen? Nehmen wir die Welt wahr, wie sie ist, oder nehmen wir nur die Interpretationen wahr, die unser Gehirn für die einlaufenden Sinnessignale erstellt – und, wenn Letzteres gilt, woher kommt das Vorwissen, das benötigt wird, um interpretieren zu können? Auf einige dieser Fragen kann die Neurobiologie inzwischen antworten. Sie zeigt uns, dass unsere Sinnesorgane nur einen winzigen Ausschnitt der Welt für unsere Primärwahrnehmung zur Verfügung stellen. Auf der Netzhaut des Auges findet sich lediglich eine kontinuierliche Verteilung elektromagnetischer Strahlung unterschiedlicher Frequenz und Amplitude. Diese wird in neuronale Erregungsmuster übersetzt, und aus ihnen konstruiert ein Netzwerk von mehreren Dutzend Hirnrindenarealen den ganzen Reichtum unserer visuellen Welt. Künstler vertrauen seit jeher auf diese rekonstruktiven Leistungen unserer Sinnessysteme. Wenn es ihnen gelingt – und das war lange Zeit ihr vornehmstes Anliegen –, in ihren Bildern genau jene Muster nachzuahmen, die von der erdachten Welt auf der Netzhaut erzeugt werden würden, dann rekonstruiert das Gehirn daraus genau diese erfundene Wirklichkeit.



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