Die Geschichte von Ismael - Flucht aus Afrika by Bastei Lübbe

Die Geschichte von Ismael - Flucht aus Afrika by Bastei Lübbe

Autor:Bastei Lübbe [D’Adamo, Francesco]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bastei Lübbe
veröffentlicht: 2011-01-20T05:00:00+00:00


Lieber Vater,

ich vermisse dich schon seit einer Ewigkeit. Wie viele Tage mögen vergangen sein, seit du mich verlassen hast?

Am Anfang ist mir gar nicht aufgefallen, wie sehr du mir fehlst. Ja, sicher, es war komisch, dir nicht vor Sonnenaufgang dabei zu helfen, das Boot vorzubereiten und dich nicht fragen zu hören: »Hast du die Köder fertig, Ismael?«

»Ja, Vater.«

»Und die Reusen?«

»Ja, Vater.«

Auch die Abende waren anders. Du hast nicht mehr mit uns am Tisch gesessen, und es war ein bisschen so, als ob wir gar nicht zu Abend essen würden. Mir fielen viele Kleinigkeiten auf, die plötzlich fehlten, zum Beispiel dein Rasiermesser am Waschbeckenrand oder der Geruch des Rasierschaums, den du zu den seltenen Gelegenheiten benutzt hast, wenn du freitags morgens mal den Feiertag ehren und in die Moschee gehen konntest, statt aufs Meer hinauszufahren. Eines Tages hätte ich das Rasiermesser benutzt.

Vielleicht habe ich auch deshalb nicht gleich bemerkt, wie sehr du mir fehlst, weil ich so viel zu erledigen hatte, was meinst du? Oder vielleicht lag es daran, dass ich meine Mutter nie habe weinen sehen. Meine Schwestern schon, sie haben vier Tage lang rumgeheult. Aber das war nicht das Gleiche. Ihnen konntest du nicht so sehr fehlen wie mir.

Nur ein einziges Mal, ich weiß nicht einmal mehr, wann es war und was ich gerade machte, dieses eine Mal war die Trauer um dich plötzlich da. Sie hat mich so getroffen, als hätte man mir ein Ruder in den Rücken gerammt. So fest, dass du keine Luft mehr bekommst vor Schmerz und dich am Boden windest und wartest, dass es vorbeigeht.

Es ging vorbei.

Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr du mir jetzt fehlst. Ich weiß ja, ich sollte dich nicht belästigen, du hast mir beigebracht, dass man die Toten ehren und respektieren soll und dass man ihre Ruhe auf keinen Fall stören darf. Aber was soll ich machen? Was soll ich jetzt machen ohne dich?

An wen sonst soll sich ein Junge wenden, wenn er in Not ist? Ich habe dich immer gefragt, wenn ich etwas nicht verstanden habe, und dir dann genau zugehört. Du hast dich bemüht, mir alles zu erklären, auch wenn deine Antwort oft war: »Wir wissen nichts, Ismael, und es gibt so viele Dinge, die wir nicht verstehen können, aber wir müssen sie trotzdem nehmen, wie sie sind, denn sie sind Gottes Wille.«

Manchmal hast du auch einfach nur den Kopf geschüttelt, und dann habe ich begriffen, dass es Dinge gibt, die größer sind als ich und du, größer als wir alle.

Wie damals, als ich dich wegen der Mädchen gefragt habe. Du hast einfach weiter auf das Netz gestarrt, das du gerade geflickt hast, und gemurmelt: »Über diese Dinge sprichst du besser mit deiner Mutter.« Ich ging also zu ihr, und sie gab mir eine Ohrfeige und meinte: »Über diese Dinge sprichst du besser mit deinem Vater.« Na ja, damals habe ich gar nichts verstanden, aber …

Ich brauche dich, Vater, du ahnst nicht wie sehr.

Oder vielleicht weißt du es doch, denn dort, wo du jetzt bist, kannst du mich ja sehen und hören.



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