Die Flügel: Roman (German Edition) by Cartarescu Mircea

Autor:Cartarescu, Mircea [Cartarescu, Mircea]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Paul Zsolnay Verlag
veröffentlicht: 2014-08-24T22:00:00+00:00

Nicht wehte der Wind, es wehte der Dämmer. Flüssiger Opal und Bernstein bildeten klare Strömungen in dem weiten Raum über dem Comer See, spiegelten ihr mystisches Licht noch einmal in seinen durchsichtigen Wassern bis fast auf den Grund, doch gedämpfter, mehr in einer hyalitartigen Masse aufgelöst. Es war, als hätte die darübergespannte Urgewalt der darunter ausgebreiteten Urgewalt in die Augen gesehen und das leuchtend rosenfarbene, mit Wolken in fortwährender Einfaltung und Entfaltung aufgeladene Gas in das von unten aufsteigende Schimmern des dichten, gallertartigen Goldes verwandelt. In der riesenhaften Abenddämmerung, die sich herabgesenkt hatte und welche die übrigen Abende des Jahres wie das höchste Gewölbe einer Kathedrale in der Mitte einer fernen Stadt überragte, gleißten weiß-gelblich die Alpen, spiegelten sich mit ihren Umrissen wie ausgeklügelte Origamis in den beinahe wogenlosen Wassern. Die quälende Traurigkeit eines tiefen Herbstes, so tief, dass sie durch das Corpus callosum drang, um sich in die thalamische Dämmerung der Stimmen und Erinnerungen zu ergießen, bauschte das einzige Segel des Fischerbootes, das den See von Cadenabbia aus überquerte, mit schwankend nach Bellagio gerichtetem Bug. Das Segel schien aus der Entfernung eine angenehm zu betastende Muschel, ein kleiner rosa-perlmutterner Fingernagel, der durch die überwältigende Leere des Abends voranglitt. Eine der Brüste der Dämmerung bauschte es, während die andere, jeder Schnürung unverschämt entschlüpft, tief unten, über den Wassern, ihren sauerkirschroten Hof zum Vorschein brachte: die in das flüchtige Funkeln von unten eintauchende Sonne. Sie schienen unter einer großen nackten, in eine Woge roter, üppiger Haarflechten gewickelten Frau zu segeln, gestützt auf das knittrige Laken der Alpen und den Spiegel des Comer Sees, der sie dunkel zurückwarf.

In beiden Pupillen des jungen Mannes, der, in einen mit veilchenblauer Seide gefütterten Mantel gehüllt, neben dem die Schoten handhabenden und in wer weiß welcher piemontesischen Mundart fluchenden Fischer auf einem Sardinenfass saß, gewahrte man das Vorgebirge, auf dem hoch oben, Haus über Haus wie eine Austernbank, die Stadt Bellagio stand, geschart um den Campanile einer italienischen Kirche, der den Felsen und die Landschaft überragte. Der Winkel, unter dem jedes Auge sie gewahrte, unterschied sich ein wenig von dem des anderen, so dass sich im Hinterhauptsbereich im Gehirn des jungen Mannes weiße und gelbliche, im Abendrot verblüffend leuchtende dreidimensionale Häuschen abzeichneten, hinaufkletternd auf den bewaldeten, unregelmäßigen Felsen, der vor dem nebligen, bläulichen Hintergrund der Weite über den Wassern hervortrat, wo der beinahe runde Mond wie ein an einem Rand leicht abgeschrägter Flussstein sich bereits gelb und durchscheinend zeigte.

Der Mann erschauerte in der Kühle des Herbstabends. Er drückte sein Kinn in den hohen, mit einer scharlachroten Seidenschleife gebundenen Hemdkragen. Er hatte ein müdes, trauriges Gesicht. Die rehbraunen Augen waren von für einen Mann allzu langen Wimpern überschattet. Waren sie gesenkt, hatten sie in ihrer sonderbaren Bogenform etwas sowohl für Männer als auch für Frauen Verstörendes, als enthüllten sie ihnen allen ein bis dahin ungekanntes inneres Wahnbild. Eine Kurtisane aus Lemberg hatte einmal in einem freigeistigen Salon gemeint, als sie mit dem jungen Witold Liebe machte, habe sie das Gefühl beschlichen, sie seien zu dritt im Bett,

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