Die Fliege und die Ewigkeit by Hakan Nesser

Die Fliege und die Ewigkeit by Hakan Nesser

Autor:Hakan Nesser [Nesser, Hakan]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-12-28T05:00:00+00:00


Am Nachmittag tranken wir wie üblich unseren Tee im Wintergarten. Der Regen kam angetrieben und peitschte gegen das Fenster, und das Meer, das am Morgen so ruhig dagelegen hatte, rollte jetzt aufgebracht und grau. Wir saßen jeweils in unserem Korbsessel, umhüllt von unserer üblichen Vorsicht sowie zwei weinroten Decken, und ich hatte das starke Gefühl, dass gleich jemand mit einer toten Möwe hereinkommen würde. Plötzlich sagte sie, direkt ins Schweigen hinein:

»Unser Leben ist verfehlt.«

»Natürlich«, antwortete ich, ohne zu zögern. »Aber nachdem wir das für uns akzeptiert haben, haben wir trotzdem die Wahl.«

»Die Wahl?«, fragte sie, ohne aufzusehen.

»Weiterzuleben oder nicht weiterzuleben.«

Sie zögerte eine Weile. »Sind alle Leben verfehlt?«

»Ich denke schon. Bis hin zu diesem Augenblick. Wir tragen alle in uns Vorstellungen, die uns verfälschen.«

Wieder machte sie eine Pause. Die Teetasse klapperte auf der Untertasse in ihrer Hand.

»Es ist schade um uns, dass wir es so spät einsehen.«

»Ja«, antwortete ich. »Es ist schade um die Menschen.«

Ebenso gut hätte ich etwas anderes antworten können, aber das Knarren unserer Korbstühle, das Teetablett mit dem dünnen Meissener Porzellan, die müden Palmen am Klavier, die Regentropfen, die die Fensterscheiben herunterliefen, unsere eigene Müdigkeit nach dem Spaziergang, die Dämmerung, die aus allen Winkeln hervorwuchs... all das besaß so ein Gewicht, dass es fast ohne unser Dazutun durch uns sprach. Nach ein paar Minuten sagte ich: »Wir werden gemeinsam miteinander gehen, das werden wir, meine Liebste, komm, lass uns von hier fortgehen! Wir werden einen neuen Garten pflanzen, einen noch schöneren, du wirst ihn sehen, und dann wirst du alles verstehen. Und eine Freude, eine tiefe, innere Freude wird sich über deine Seele senken, wie die Sonne am Abend ...«

Eine unbedeutende Bewegung ließ mich einen Blick auf sie werfen. Ihr Kopf war auf die Rückenlehne gefallen, sie schlief tief und fest.

Jetzt am Abend habe ich mein Tagebuch noch einmal von der ersten Seite an gelesen. Zu meiner Freude stellte ich fest, dass es langsam einen gewissen Stil bekommt. Mein Krebs, der sicher einen täglichen Kommentar verdient, auch wenn es sich herausstellen sollte, dass es sich um etwas anderes handelt, weicht heute einer Beurteilung aus. Zumindest okular, nachdem ich ihn nicht sehen kann. Ich habe heute Morgen einen Verband darüber angelegt, vielleicht sollte ich den jetzt wechseln, bevor ich ins Bett gehe, aber er sieht so sauber und schön aus, dass ich ihn bis morgen dort lassen werde. Natürlich tut es weh, wenn ich drücke, aber nicht mehr als sonst.

Das heutige Buch liegt vor mir auf dem Tisch, oder besser gesagt die heutigen Bücher, da es sich um ein Werk in zwei Bänden handelt. »Über das Betrachten« heißt es und ist geschrieben von einem gewissen Mordecai Singh. Ich habe weder von dem Buch noch von dem Verfasser jemals gehört, aber ich habe es trotzdem ausgesucht, zum Teil, weil es mich an die Frau vom Friedhof erinnert, zum Teil, weil es mich in gewisser Weise an Tomas erinnert. Er hat seinen Namen nicht auf das Vorsatzblatt geschrieben wie sonst, auch nicht das Anschaffungsjahr, und für einen kurzen Moment hatte ich im Kopf, dass er es vielleicht selbst geschrieben hat.



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