Die Einsamkeit der Haut by Bodo Kirchhoff

Die Einsamkeit der Haut by Bodo Kirchhoff

Autor:Bodo Kirchhoff
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2016-11-15T00:00:00+00:00


Die Einsamkeit der Haut

Manchmal frage ich mich, an Tagen wie heute, ob meine Glanzzeit schon vorüber ist. Ich wiege jetzt zweiundsiebzig Kilo bei einer Körpergröße von eins achtundsiebzig. Mein Oberarmumfang beträgt zur Zeit – ich vermesse mich wöchentlich – neununddreißig Zentimeter. Die Brust liegt bei einhundertsechs; der Schenkelumfang bei vierundfünfzig, der meiner Waden bei vierzig. Es hat sich eigentlich kaum etwas verändert, und doch gibt es Einbußen, aber die Leute, die mich hier so sehen, wenn sie mich überhaupt sehen, haben nicht einmal für sich ein Auge. Es ist Hochsommer und eine der wenigen, fast tropischen Nächte in Frankfurt. Jeder ist auf seine Weise aus dem Häuschen, besonders hier im Bahnhofsviertel. Die Männer streifen umher und glauben, sie könnten in so einer Nacht die Beine oder die Brust ihres Lebens finden. Man schöpft ja immer Hoffnung, wenn es draußen warm ist, und sei es am Ende nur die Hoffnung auf eine Abkühlung.

Und so gehe ich mit offenem Hemd und glaube, daß die Glanzzeit doch noch nicht vorbei ist, jedenfalls heute noch nicht. Keine Sorge, beruhige ich mich, das wird schon noch halten.

Ich rede ja häufig mit mir, lege dazu eine Hand auf die Brust und lasse den Muskel hüpfen. Na Mensch, noch ganz schön da! sag ich zu ihm, und er antwortet prompt, indem er noch einmal hüpft, ich aber nehme die Hand wieder weg und gehe mit ihr weiter, über die kleinen harten Buchten in der Schulter bis zu meinem linken, stärkeren Arm, spanne ihn an und sage: Hör mal – bleib ja, wie du bist, mach keinen Ärger! So, in etwa, rede ich zu ihm und zu den anderen; man muß seinen Freunden die Stirn bieten.

Gegen den Haarausfall habe ich mir allerdings ein Mittel gekauft. Morgens und abends tropfe ich es auf die gefährdeten Stellen. Ein etwas größeres Problem sind meine Zähne. Sie sind schon reichlich angegriffen, von allerlei Süßem, und ich fürchte, daß sie mir eines Tages einfach abbrechen könnten, wenn ich, was ja doch immer wieder vorkommt, auf etwas Hartes beiße. Darum beiße ich bei allem sehr vorsichtig zu. Und ich achte auch darauf, daß ich mich nicht erkälte. Denn jede Erkältung wirft mich um zwei Zentimeter zurück.

In dem Grillstübchen in der Taunusstraße hängt neben dem Zigarettenautomaten ein Spiegel, immer Grund für einen Abstecher. Ich setze mich so, daß ich halbwegs hineinschauen kann und denke kurz nach über mich. Ich denke meistens nur kurz über mich nach, weil dasselbe herauskommt wie beim längeren Nachdenken. Und auch schon kurzes Nachdenken läßt meine Augen glänzen, sie lächeln mir zu in dem Spiegel. Dann sehe ich rasch nach, ob alles noch da ist, lasse rollen und hüpfen und bin beruhigt für eine Weile; so vergeht die Zeit, und schließlich fällt mir meine Mutter ein, die jetzt gewiß schon verwest ist. Sie hat mir viel beigebracht, das wieder loszuwerden mich einiges kostet. Wenn sie beim Nägelkürzen meine Hand hielt, sagte sie: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Oder sie sagte: Meine Hände, deine Hände. Meine Arme, deine Arme. Meine Beine, deine Beine.



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