Die Ballade der Lila K by Callet Blandine Le

Die Ballade der Lila K by Callet Blandine Le

Autor:Callet, Blandine Le [Callet, Blandine Le]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2011-10-30T23:00:00+00:00


Milo

Eines Morgens, als ich meinen Arbeitsplatz wie gewohnt in aller Frühe erreichte, sah ich Licht durch die Jalousien des großen verglasten Büros dringen. Mir blieb die Luft weg, wie gelähmt blieb ich stehen, während hinter mir die Aufzugtüren sich langsam schlossen. Ist das nicht albern? So lange schon hatte ich darauf gewartet, dass dieses Büro zum Leben erwachte. Da hätte ich doch vor freudiger Spannung brennen müssen. Stattdessen verspürte ich eine Art Beklemmung, eine Sehnsucht nach dem alten Zustand: Das Büro leer und still, ohne Licht, jeder Gegenstand unverrückbar an seinem Platz – es sollte sich nur nichts verändern. Und dieser Name auf dem Türschild – Milo Templeton – sollte ein bloßer Name bleiben, ohne jegliche Verkörperung. Ja wirklich, am liebsten hätte ich die Uhr zurückgedreht. Ich hatte solche Angst, enttäuscht zu werden.

Das ganze Stockwerk war in Dunkelheit getaucht, bis auf die Nachtlichter, die entlang der Sockelleisten blinkten, und jenen Lampenschein, der weiter hinten im Flur aus dem großen verglasten Büro fiel. Während ich wie ein Ölgötze dastand und die Sekunden zählte, bis der Sturm in meinem Innern sich gelegt hatte.

Bei 547 dachte ich: Schluss jetzt, du kannst nicht ewig hier herumstehen, früher oder später musst du dich sowieso in deine Zelle begeben, also warum nicht gleich? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, atmete tief ein und setzte mich in Bewegung, die Hand fest um das Fläschchen in meiner Jackentasche geschlossen – eine sehr hilfreiche Methode, als schluckte ich eine Tablette, doch ohne Nebenwirkungen.

Auf Höhe der Glasfront habe ich mich ganz langsam, ganz leise herangepirscht. Ich konnte nicht anders, ich musste es sehen. Musste es wissen. Zu oft hatte ich vor diesem Büro gestanden, als es noch verlassen war, und vielleicht auch zu viel geträumt. Ich lugte durch die Jalousienschlitze hindurch. Und da habe ich Sie zum ersten Mal gesehen.

Über Ihren Schreibtisch gebeugt, prüften Sie mit bekümmerter Miene alte vergilbte Zeitungen. Die Falten auf Ihrer Stirn – das war das Erste, was mir ins Auge fiel. Erstaunlich bei einem noch so jungen Mann – laut Kurzbiographie auf der Bibliothekshomepage waren Sie 35. Ein Foto gab es dazu nicht, anders als Copland sind Sie zurückhaltend und wollen Ihr Konterfei nicht überall prangen sehen.

Ich hatte nie versucht, mir ein Bild von Ihnen zu machen, physisch, meine ich. Dennoch hätte ich nie mit einem derart gezeichneten Gesicht gerechnet. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Ich fand das nicht hässlich. Keineswegs. Es war lediglich ein wenig verstörend. Anders.

Gleich als Nächstes sind mir Ihre Hände aufgefallen. Sie trugen keine Handschuhe. Zum ersten Mal seit Monsieur Kauffmanns Tod sah ich jemanden ungeschützt mit Papierdokumenten hantieren. Sie ahnen nicht, wie sehr mich das berührt hat. Vermutlich habe ich Sie deswegen so lange heimlich beobachtet. Ich konnte mich nicht vom Anblick Ihrer Hände, Ihrer Finger losreißen, die durch die Seiten blätterten.

Als Sie plötzlich den Kopf hoben, sprang ich mit einem Satz in den Schutz der Dunkelheit zurück. Mit angehaltenem Atem an die Wand gedrückt, verfolgte ich, wie Sie in den finsteren Flur hinausspähten. Meine Gedanken rasten wild durcheinander. Ihre Verblüffung – oder Verärgerung – verstärkte die Stirnfalten.



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