Die Ausgewanderten by Sebald W. G

Die Ausgewanderten by Sebald W. G

Autor:Sebald, W. G. [Sebald, W. G.]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2015-01-24T16:00:00+00:00


Vor mir auf dem Schreibtisch liegt das Agendabüchlein des Ambros, das mir die Tante Fini bei meinem Winterbesuch in Cedar Gien West ausgehändigt hat. Es ist ein in weiches, weinrotes Leder gebundener, etwa zwölf auf acht Zentimeter großer Taschenkalender für das Jahr 1913, den der Ambros in Mailand gekauft haben muß, denn dort beginnt er am 20. August mit seinen Aufzeichnungen: Palace H. 3 p.m. Signora M. Abends Teatro S. Martino, Corso V. Em. I tre Emisferi.

Die Entzifferung der winzigen, nicht selten zwischen mehreren Sprachen wechselnden Schrift hat nicht wenig Mühe bereitet und wäre wahrscheinlich nie von mir zuwege gebracht worden, hätten sich nicht die vor beinahe achtzig Jahren zu Papier gebrachten Zeilen sozusagen von selber aufgetan. Den allmählich ausführlicher werdenden Eintragungen ist zu entnehmen, daß Ambros und Cosmo Ende August mit einem Dampfsegler in Richtung Griechenland und Konstantinopel von Venedig abgegangen sind. Früher Morgen, steht da geschrieben, ich lange an Deck, Rückschau haltend. Die sich entfernenden Lichter der Stadt unter einem Regenschleier. Die Inseln in der Lagune wie Schatten. Mal du pays. Le navigateur écrit son journal à la vue de la terre qui s’éloigne. Tags darauf heißt es: Vor der kroatischen Küste. Cosmo sehr unruhig. Ein schöner Himmel. Baumlose Berge. Die sich türmenden Wolken. Nachmittags um drei so gut wie finster. Unwetter. Wir streichen die Segel. Um 7 Uhr abends der Sturm in voller Stärke. Wellen brechen über das Deck herein. Der österreichische Kapitän hat in seiner Kajüte eine Ölfunzel angezündet vor dem Bildnis der lb. Frau. Er kniet am Boden und betet. Auf italienisch, seltsamerweise, für die armen verschollenen Seeleute sepolti in questo sacro mare. Auf die stürmische Nacht folgt ein windstiller Tag. Unter Dampf gleichmäßig weiter nach Süden. Ich ordne die durcheinandergeratenen Sachen. Bei abnehmendem Licht vor uns, perlgrau schwebend auf der Linie des Horizonts, eine Insel. Cosmo steht im Bug wie ein Lotse. Ruft einem Matrosen das Wort Fano zu. Sísiorsí, schreit dieser und vorausweisend lauter noch einmal: Fano! Fano! Später seh ich am Fuß der schon ins Dunkel getauchten Insel ein Feuer. Es sind Fischer am Strand. Einer von ihnen schwenkt ein brennendes Holz. Wir fahren vorbei und laufen ein paar Stunden später in den Hafen von Kassiopé an der Nordküste von Kérkyra ein. Am Morgen an Bord der furchtbarste Lärm. Behebung eines Maschinenschadens. Mit Cosmo an Land. Steigen zu dem verfallenen Befestigungswerk hinauf. Eine Steineiche wächst mitten aus der Burg. Wir liegen unter ihrem Blätterdach wie in einer Laube. Drunten schlagen sie mit dem Hammer an den Dampfkessel. Einen Tag lang außer der Zeit. In der Nacht schlafen wir an Deck. Grillengesang. Von einem Luftzug geweckt an der Stirn. Jenseits der Wasserstraße, hinter den schwarzblauen albanischen Bergen, kommt der Tag herauf, breitet seinen Flammenschein über die noch lichtlose Welt. Und zugleich durchqueren zwei weiße Hochseejachten unter weißen Rauchfahnen das Bild, so langsam, als würden sie Zoll für Zoll an einem Seil über eine weite Bühne gezogen. Man glaubt kaum, daß sie sich fortbewegen, aber endlich verschwinden sie doch hinter der Seitenkulisse des dunkelgrün bewaldeten Caps Varvara, über welchem die hauchdünne Sichel des zunehmenden Mondes steht.



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