Der Untergeher (German Edition) by Thomas Bernhard

Der Untergeher (German Edition) by Thomas Bernhard

Autor:Thomas Bernhard [Bernhard, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-02-04T23:00:00+00:00


Wertheimer war immer wichtig zu wissen, was die Leute über ihn denken, Glenn legte darauf nicht den geringsten Wert, wie ich selbst auch nicht, mir war es wie Glenn immer gleichgültig gewesen, was die sogenannte Umwelt über mich denkt. Wertheimer redete, auch wenn er nichts zu sagen hatte, nur weil ihm Schweigen gefährlich geworden war, Glenn schwieg auch über die weitesten Strecken, wie ich auch, der ich wie Glenn wenigstens tagelang schweigen konnte, wenn auch nicht wie Glenn, wochenlang. Allein die Angst, nicht ernst genommen zu werden, machte unseren Untergeher geschwätzig, dachte ich. Und es kam wahrscheinlich auch daher, daß er in Wien wie auch in Traich die meiste Zeit völlig auf sich allein angewiesen war damals schon, durch Wien gelaufen ist und, wie er immer sagte, mit seiner Schwester nichts redete, denn mit seiner Schwester sei auch niemals ein Gespräch zustande gekommen. Für seine Besitzangelegenheiten hatte er, wie er sie nannte, unverschämte Verwalter, mit welchen er nur schriftlich verkehrte. So war also auch Wertheimer ein Mensch, der durchaus schweigen konnte und möglicherweise sogar länger schweigen konnte als Glenn und ich, aber einmal mit uns zusammen, reden mußte, dachte ich. Er, der auf der besten Innenstadtadresse zuhause gewesen war, lief am liebsten nach Floridsdorf, in den Arbeiterbezirk, der durch seine Lokomotivfabrik Berühmtheit erlangt hat, nach Kagran, nach Kaisermühlen, wo die Ärmsten der Armen zuhause sind, auf den sogenannten Alsergrund oder nach Ottakring hinaus, sicher eine Perversität, dachte ich. Durch die Hintertür in abgetragenen Kleidern in proletarischer Kostümierung, um auf seinen Erkundungsläufen nicht aufzufallen, dachte ich. Stundenlang auf der Floridsdorfer Brücke stehend, beobachtete er die Vorbeigehenden, schaute ins braune, von der Chemie längst vernichtete Donauwasser, auf welchem russische und jugoslawische Frachter in Richtung Schwarzes Meer trieben. Da habe er oft gedacht, ob es nicht sein größtes Unglück sei, in eine reiche Familie hineingeboren worden zu sein, dachte ich, denn er hat immer gesagt, er fühle sich in Floridsdorf und in Kagran wohler, als im Ersten Bezirk, unter den Floridsdorfmenschen und Kagranmenschen wohler als unter den Ersterbezirkmenschen, die ihm im Grunde immer verhaßt gewesen seien. Er suchte Gasthäuser in der Prager- und Brünnerstraße auf und bestellte sich Bier und Essigwurst, blieb stundenlang sitzen und hörte sich die Leute an, beobachtete sie, bis ihm sozusagen die Luft ausging, er hinausgehen mußte, nachhause, naturgemäß zu Fuß, dachte ich. Aber immer wieder sagte er auch, daß es ein Irrtum sei, zu glauben, als Floridsdorfer wäre er glücklicher, als Kagraner, als Alsergrundmensch, dachte ich, daß es ein Irrtum sei, anzunehmen, diese Leute hätten den Ersterbezirkmenschen wenigstens einen besseren Charakter voraus. Bei näherer Betrachtung, so er, seien auch die sogenannten Benachteiligten, die sogenannten Armen und sogenannten Zurückgebliebenen genauso charakterlos und widerwärtig angelegt in ihrem Wesen und genauso abzulehnen wie die andern, zu denen man gehört und die wir nur aus diesem Grunde als widerwärtig empfinden. Die unteren Schichten sind genauso gemeingefährlich wie die oberen, sagte er, sie gehen mit denselben Scheußlichkeiten vor, sind genauso abzulehnen wie die andern, sie sind anders, aber sie sind genauso scheußlich, sagte er, dachte ich.



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