Der Traum der Dichterin by Elke Weigel

Der Traum der Dichterin by Elke Weigel

Autor:Elke Weigel [Weigel, Elke]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Gmeiner-Verlag
veröffentlicht: 2015-08-05T00:00:00+00:00


Mein Liebstes im Grab

Schwärze umschlang alles, was außerhalb des Friedhofs lag; der runde Mond beschien nur die Gräber an der Mauer und die Kiesel zwischen den Grabreihen, die mir den Weg wiesen, den ich barfuß im Nachtgewand entlangstolperte. Kalte Luft ließ mich erschaudern. Ich wusste nicht, wohin ich zuerst greifen sollte: zum Ausschnitt, um ihn zusammenzuhalten, zu den Ärmeln, die hinaufrutschten, oder zu den Haaren, die mir in die Augen flatterten? Warum rannte ich nicht zurück in meine Schlafstube? Es war, als ginge nicht ich, sondern eine andere und ich sah mir dabei zu, dachte an die Alte, von der ich gehört hatte, die nicht mehr wusste, dass man nachts zu Hause blieb und Gottes Schutz nicht herausforderte.

Ein Hauch streifte meine Wange. Schneller! Ich eilte voran und fragte mich, ob etwas gefährlich sein konnte, das keine Gestalt hatte, nur einen Atem.

Vor einem frischen Grab endete die erleuchtete Spur. Es roch intensiv nach Erde. Das Schwarz zog sich enger um mich herum zusammen, und das Mondlicht fiel auf eine klaffende Öffnung im Erdhügel, die zu einem Hohlraum darunter führte. Ein fahles Licht lockte von dort.

Weinen. Ja, ein leises Weinen drang von unten herauf.

Auf Knien schaufelte ich mit beiden Händen die Erde beiseite und vergrößerte das Loch. Im Mondlicht verstärkte sich das Schimmern, das von unten heraufdrang. Knochen? Wieder fuhr ein Hauch über meine Wange. Diesmal fühlte es sich an, als hätten Hände meine Haut gestreift, wollten mich umfangen und zu sich ziehen. Hatte das Skelett nach mir gegriffen? Wollte es getröstet werden?

Der Kummer in meiner Brust brannte wie aufgerissene Haut, und ich wusste, dass mein Liebstes litt. Leid und Glück lagen so nah beieinander, dass es mir die Kehle zuschnürte, und ich konnte nicht rufen: Ich bin hier, ich habe dich gefunden, mein Liebstes, ich bin hier!

Der Boden gab nach, ich rutschte und brach schließlich mit einem Ruck ein, nahm Erde mit und landete ausgestreckt neben dem Skelett. Ohne zu zögern, umfing ich den Schädel mit beiden Händen, küsste und streichelte ihn. Das Weinen verstummte.

»Adieu«, sagte eine Stimme, und ich erkannte sie als meine, obwohl es der Schädel war, der sprach.

Weinend tastete ich die Knochen ab, streichelte über Hände und Rippen, aber ich konnte sie nicht zum Leben erwecken, meine Tränen hatten keine Macht über den Tod. Ich war zu spät gekommen! Mein Liebstes, die Doppelgängerin, war tot.

Lange blieb ich so liegen, wollte sterben, um wieder mit ihr vereint zu sein. Aber mein Herz schlug unverdrossen weiter, mein Atem entströmte in Seufzern, und schließlich spürte ich die Kälte des Bodens, meine schmerzenden Glieder und brennenden Augen.

Ich kroch aus dem Grab, ließ es zerwühlt zurück und stolperte über den Weg, dessen Kiesel jetzt kantig in meine Sohlen schnitten, zum Friedhofstor. Mit dem feuchten und erdverschmierten Nachthemd legte ich mich ins Bett und schlief augenblicklich ein.



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