Der Tag vor dem Glück by Erri De Luca

Der Tag vor dem Glück by Erri De Luca

Autor:Erri De Luca [Luca, Erri De]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 978-3-86220-902-6
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2015-10-20T16:00:00+00:00


»Ich will weit, weit fort

Dass mich nicht mal der Wind findet

Dass mich nicht mal der Wind findet

Auch die Sonne nicht, die immerzu wandert.«

Es war das Liedchen eines jungen Bauern aus den Marken, sein Pritschennachbar im Kielraum. Von den zwanzig Jahren in Argentinien erinnerte er sich an die Überfahrt, den Ozean. Er hatte den Wunsch des Jungen erfüllt, der über das Tor des Waisenhauses sprang, um die hell erleuchteten Schiffe zu sehen, die im Golf vor Anker lagen.

»Reisen, das sind nur die Schifffahrten übers Meer, Zugfahrten sind es nicht. Der Horizont muss leer sein und den Himmel vom Wasser trennen. Ringsumher darf nichts sein, und über dir muss Unendlichkeit lasten, dann ist es eine Reise. Manche weinten, denn trotz der Armut, die sie zur Ausreise zwang, litten sie unter dem Verlust. Bis auf wenige, die Schlimmsten, war niemand auf Abenteuer aus. Für die Fahrkarte wurden die Ersparnisse mehrerer Familien zusammengelegt. Die Auswanderer waren ihre Investition in die Zukunft. Durch den Erfolg ihres Verwandten würden sie entschädigt werden. Diese erdrückende Aufgabe, die Verpflichtung, sein Glück zu machen, war so belastend wie die Weite des Meeres. Denen, die weinten, sagte ich, mit diesem Salzwasser würden sie den Ozean noch größer machen. Die Reise sollte dazu dienen, den Ausgangspunkt zu vergessen. Sie dauerte fast einen Monat, und am Ende gingen Männer an Land, die bereit waren, Männer, die die Nase in die Luft reckten.«

Und ich brach mir an diesem Samstag die Nase. Ich hatte mich zwischen die Beine geworfen, um den Ball zu erwischen, ich war vor dem Schuss da, doch im Eifer des Gefechts schoss der andere trotzdem und traf mich im Gesicht. Den Ball hielt ich noch fest, als der Schiedsrichter wegen des Fouls pfiff, ich fasste an meine Nase und fand sie verschoben. Ich muss furchtbar ausgesehen haben, die anderen starrten mich erschrocken an. Ein Medizinstudent nahm meine Nase zwischen zwei Finger und rückte sie mit einer entschlossenen Bewegung gerade. Der Knorpel war entgleist, und er hatte ihn wieder an seinen Platz gerückt. Er sagte, im Knochen gebe es eine Vertiefung, eine Infraktion. Ich wurde als Torwart ausgewechselt, legte mir Eis auf die Nase, um das Blut zu stoppen.

Am Ende des Spiels kam der Gegner sich entschuldigen.

Ich erinnerte mich an einen Satz aus Don Gaetanos Erzählungen und antwortete: »Solche Sachen passieren am Tag davor.«

»Am Tag wovor?«

»Am Tag vor dem Glück.«

Er ging kopfschüttelnd weg. Ich kam mit geschwollenen Veilchenaugen zu Hause an. Don Gaetano machte mir eine Packung mit Salzwasser.

Ich schlief mit Schmerzen in einem Karussell aus Träumen. Als ich aufwachte, war es dunkel. In der Nase spürte ich nichts, ein Pfropfen trockenen Bluts verstopfte sie. Vor Anna wollte ich auf die Nase nicht verzichten. Ich wickelte ein wenig Toilettenpapier um einen Kugelschreiber und versuchte damit, einen Weg in den Nasenlöchern zu öffnen. Der Schmerz drückte mir Tränen aus den Augen. Also versuchte ich, das Gerinnsel mit warmem Wasser aufzulösen, es floss rosa heraus.

Ich vertrieb den Schmerz mit Gedanken an Anna und schnaubte durch die Nasenlöcher, aber die Luft kehrte in die Kehle zurück.



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