Der Schrecksenmeister (Band 5) by Moers Walter

Der Schrecksenmeister (Band 5) by Moers Walter

Autor:Moers, Walter [Moers, Walter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Albrecht Knaus Verlag
veröffentlicht: 2017-08-13T22:00:00+00:00


Die zweite Nuss

Da Echo nun ganz auf sich selbst gestellt war, musste er seinen eigenen Kopf gebrauchen, um eine neue Strategie zu entwickeln. Nach einem ausführlichen Dauerlauf die Schlosstreppen hinauf und hinab ruhte er in seinem Körbchen aus und führte Selbstgespräche.

»Was ist Eißpins schwache Stelle?«, überlegte er. »Wo ist er verletzlich? Er lächelt, er lacht, er scherzt – er weint sogar manchmal. Also muss er über Gefühle verfügen wie jede andere Kreatur.«

Echo drehte sich auf den Rücken und starrte die Decke an.

»Woher kommt seine Leidenschaft für das Kochen? Jemand, der so viel Liebe auf eine Kunst verwendet, die anderen Genuss bereitet, der muss doch auch zur Nächstenliebe fähig sein. Ob es mir gelingen könnte, an sein Mitleid zu appellieren? Aber womit?«

Die Decke über ihm erstrahlte plötzlich in goldenem Licht, und in ihrer Mitte materialisierte sich etwas, das von noch hellerem Leuchten erfüllt war. Echo glaubte zuerst, dass es das Gekochte Gespenst sei, dann aber erkannte er das Goldene Eichhörnchen vom Baum der Erkenntnuss.

»Hallo wieder mal!«, piepste das Eichhörnchen. »Bist du bereit, dir bei wichtigen Erkenntnisprozessen assistieren zu lassen?«

Echo glotzte die Erscheinung verdutzt an. Er verspürte eine Wärme, die seinen ganzen Körper mit Ruhe und Wohlgefühl erfüllte.

»Das sind die Sympathetischen Vibrationen, die von den Grübelnden Eiern ausgehen«, sagte das Eichhörnchen. »Mächtige Schwingungen, die sie aus dem Tal der Grübelnden Eier an mich senden, damit ich sie auf dich übertragen kann. Ich bin sozusagen ihr telepathischer Postbote.«

»Schwingungen?«, fragte Echo.

»Ja. Du kannst es auch einfach Vertrauen nennen. So was braucht man, wenn man solche Visionen hat wie du gerade, um dabei nicht den Verstand zu verlieren.«

»Um meinen Verstand mache ich mir eigentlich keine Sorgen«, antwortete Echo. »Aber um mein Leben.«

»Deswegen bin ich hier. Du denkst über eine neue Strategie nach?«

»Ich habe mir überlegt, wie ich sein Mitleid erregen kann.«

»Das wird nicht einfach sein. Er hat ein Herz aus Eis.«

»Aber er weint manchmal.«

»Vielleicht hatte er was im Auge. Oder Zahnschmerzen.«

»Nein, diese Schmerzen kamen woanders her.«

»Gut«, sagte das Eichhörnchen. »Das ist ein Ansatzpunkt. Du fängst am besten bei dir selber an. Hast du schon einmal erforscht, ob es etwas gibt, das dich in deinem Leben tief gerührt hat? Was dein Mitleid erregte?«

»Nein«, antwortete Echo.

»Dann tu es! Denk nach! Durchforsche deine Erinnerung!«

Echo gehorchte. »Hm«, dachte er. Mitleid. Rührung. Er hatte in seinem kurzen Leben noch sehr wenig Gelegenheit zu diesen Gefühlsregungen gehabt.

»Mitleid hatte ich höchstens mit mir selber.«

»Das zählt nicht!«, rief das Eichhörnchen. »Denk nach! Vielleicht ist da noch was.«

Echo überlegte angestrengt.

»Wann hast du mal geweint? Aber nicht über dein eigenes Schicksal, sondern über das eines anderen?«, half das Eichhörnchen aus.

Echo erinnerte sich an die Szene, als er einmal einen blinden Maulwurf in einen Bach geschubst hatte. Aber da hatte er nicht geweint, sondern gelacht.

»Das war Schadenfreude!«, tadelte das Eichhörnchen. »Das war kein Mitleid, sondern das Gegenteil.«

»Ich weiß«, sagte Echo. »Keine Ahnung, warum mir das gerade eingefallen ist.«

»Das ist ein Teil des Erkenntnisprozesses«, erklärte das Eichhörnchen. »Dein Gehirn sortiert dein Leben nach den passenden Empfindungen aus. Forsche weiter! Geh so weit zurück wie möglich!«

Nun dämmerte Echo etwas.



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