Der Rest ihres Lebens | Roman by Linda Benedikt
Autor:Linda Benedikt [Benedikt, Linda]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783037900727
Herausgeber: Oetinger E-Books
veröffentlicht: 2015-03-09T16:00:00+00:00
Ich hatte ausschlafen wollen, es war schließlich Sonntag, aber ich wurde bereits um halb sechs Uhr wach. Ich war verschwitzt und warf als Erstes die Bettdecke von mir. Es war schon jetzt sehr heiß im Zimmer, und ich ertappte mich zum ersten Mal bei dem Gedanken, dass ich langsam genug von dieser Hitze hatte. Ein natürlich unsinniger Gedanke, wie alle Wettergedanken. Ich las ein bisschen in meinem Buch, stand dann aber doch auf. Im Bad musste ich feststellen, dass ich mich gestern sehr nachlässig abgeschminkt hatte: Mein linkes Auge sah aus, als hätte mir jemand ein Veilchen verpasst. Ich duschte lauwarm, brauste mich kalt ab und stand lange vor dem Schrank, weil ich nicht wusste, was ich anziehen sollte: Alles schien zu langärmlig, zu fest, zu warm. Am Ende zog ich mir ein dünnes Baumwollkleid über, das ich letztes Jahr in einem Charity Shop gekauft hatte. Ich mochte die Farbe, ein tiefes, dunkles Rot mit kleinen weißen Punkten. Aber ich kam mir in dem Kleid immer wie ein Fliegenpilz vor, und ich fürchte, die Farbe steht mir auch nicht besonders. Aber heute war es mir egal.
Die Zeitung lag schon vor der Tür. Ich kochte mir eine Tasse Tee, machte mir einen Toast mit Honig und setzte mich, nach kurzem Zögern, auf die Terrasse. Das Haus war mir zu stickig, und draußen wehte ein leichter Wind, zumindest bildete ich mir das ein. Unten im Hof schien die Lampionschnur im Laufe der gestrigen Nacht gerissen zu sein, Laternen lagen auf den Bodenplatten, ein oder zwei waren auch zertreten. Auf einem kleinen Tischchen und den Stühlen standen Teller, halb volle Gläser, ein angeschnittener Kuchen.
In der Zeitung las ich, dass in der letzten Woche fünf Menschen an den Folgen der ungewöhnlichen Hitzewelle gestorben waren. Darunter drei bei einer Militärübung ums Leben gekommene Soldaten (geliebte Brüder, Söhne, Väter und liebevollste Ehemänner) und zwei Rentnerinnen (zu denen nichts dergleichen vermerkt war). Unter der Schlagzeile waren fünf Fotos abgebildet. Die Soldaten sahen auf den wohl erst kürzlich geschossenen Aufnahmen – in voller Montur – wie große Kinder aus. Von den alten Damen, einer gewissen Emily Hobbs, ehemalige Buchhalterin aus Nordlondon, und Agatha Webster, Hausfrau und Kriegswitwe aus Colliers Wood, gab es kleinere Bilder. Unscharf und verwaschen blickten sie mich an. Emily Hobbs trug eine geblümte Bluse, Agatha Webster einen dicken Wollpullover und eine Papierkrone, wohl eine Privataufnahme von letztem Weihnachten. Etwas unglücklich, angesichts ihrer Todesursache. Eine Nichte sagte über sie, dass sie einen großartigen Sinn für Humor gehabt habe und eine Person gewesen sei, die immer einen Parkplatz fand: »So ein Mensch« sei sie »einfach gewesen«, attestierte sie ihr. Dann rutschte mir der Honigtoast aus der Hand und landete, natürlich mit der bestrichenen Seite, auf der Zeitung. Mit spitzen Fingern nahm ich ihn auf und versuchte, mit dem Messer den Honig und die Butter von der Zeitung zu kratzen. Es machte alles nur schlimmer. Verärgert trug ich Teller, Toast und Tasse ins Haus und wusch mir die Hände. Da fiel mir Helen wieder ein und dass ich ihr hatte schreiben wollen.
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