Der polnische Boxer - Roman in zehn Runden by Carl Hanser Verlag

Der polnische Boxer - Roman in zehn Runden by Carl Hanser Verlag

Autor:Carl Hanser Verlag [Verlag, Carl Hanser]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-09-18T16:00:00+00:00


GESPENSTER

Warum willst du ihn finden, Dudú?

Ich packte gerade meinen Koffer fertig, und Lía lag immer noch in ihrem himmelblauen Frau-Doktor-Kleidchen auf dem Fußboden und mischte in ihren Händen sämtliche Postkarten.

Ich schwieg. Ich hatte keine Antwort. Habe bis heute keine. Ich weiß immer noch nicht, warum ich Milan Rakić finden wollte. Ebenso wenig weiß ich, wann und wie ich zu dem Entschluss gelangte, nach Belgrad zu reisen.

Vielleicht entstand die Idee durch die vielen Postkarten, die vielen Geschichten, die ich inzwischen irgendwie auch als meine eigenen betrachtete. Und vielleicht reifte sie während des ganzen Jahres heran, das bereits verstrichen war, ohne dass ich irgendetwas von Milan gehört hatte. Und vielleicht nahm sie schließlich obsessiv Gestalt an, als ich die perfekte Zierschleife für mein Balkanprojekt kennenlernte, sie hieß Danica Kovasević und war ein sehr serbisches und sehr hübsches Mädchen, das schon über zehn Jahre in Guatemala lebte.

Ich lernte sie in einer angesagten Diskothek kennen. Bevor sie mir vorgestellt wurde, flüsterte mir ein Freund zu, sie würde zwar behaupten, als Publizistin zu arbeiten, sei in Wirklichkeit aber eine Edelprostituierte. Für die da oben, Alter, sagte er mit einem künstlichen Tequilahauch und einem in weite, verklärte Fernen schweifenden Blick. In dieser Nacht sagte ich inmitten des Getöses und Krawalls irgendeiner Abart von elektronischer Musik zu Danica (mit Betonung auf der vorletzten, nicht drittletzten Silbe, korrigierte sie mich), ich würde gern nach Belgrad fliegen, obwohl es sehr gut möglich ist, dass ich ihr mit zwei oder drei Whisky intus sagte, ich müsse nach Belgrad fliegen, weil Whisky, wie alle Welt weiß, vor allem mein polnischer Großvater, die Molltöne des Müssens verstärkt. Sie lächelte und sagte, unüberhörbar skeptisch, wie schön. Aber am nächsten Tag rief ich sie an und sagte ihr noch einmal, dass ich eine Einladung nach Póvoa de Varzim in Portugal dazu nutzen wolle, nach Belgrad zu fliegen, und ob sie mir nicht helfen könne, mich etwas zurechtzufinden, mir vielleicht eine Unterkunft zu besorgen. Ich habe sogar schon das Ticket, log ich. Danica sagte, ich solle ihr ein paar Tage Zeit lassen, sie werde sich bei mir melden. Zwei Wochen später rief sie an. Alles arrangiert, sagte sie. Ein Freund, Slavko Nikolić, holt dich am Flughafen ab und bringt dich persönlich zu einer kleinen Wohnung in der Nedeljka-Čabrinovića-Straße, wobei ich mir unwillkürlich ein schmutziges, sehr dunkles Zimmer vorstellte, in dem sich minderjährige Prostituierte und Menschenhändler tummelten. Ich blieb stumm und erwog das ganze Ausmaß meiner Dummheit. Keine Sorge, es ist nicht teuer, sagte sie. Slavko ist in Ordnung, sagte sie. Im Hintergrund hörte ich die rauhe Stimme eines Mannes, der etwas sagte oder verlangte, und Danica legte auf, ohne sich zu verabschieden. Der Universität übermittelte ich daraufhin fristgerecht mein Gesuch für einen zweiwöchigen Urlaub, nahm, um den Schein zu wahren, die Einladung nach Portugal an (meine »Póvoa-Rede« schrieb ich wenige Tage vor der Abreise, nach einer nicht enden wollenden Bergman’schen und schlaflosen Nacht) und kaufte mir, ohne groß nachzudenken, ein kompliziertes Flugticket mit einwöchigem Zwischenstopp in Belgrad. So einfach. So unvernünftig.

Trotzdem wäre ich fast doch nicht gefahren.



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