Der menschliche Standpunkt by William Tenn

Der menschliche Standpunkt by William Tenn

Autor:William Tenn
Die sprache: deu
Format: epub


Das flachäugige Ungeheuer

In den ersten Minuten versuchte Clyde Manship, der bis dahin als Dozent für vergleichende Literaturwissenschaft an der Kelly Universität tätig gewesen war, in den ersten Minuten also versuchte Manship sich einzureden, daß er schlecht träume. Er schloß die Augen und redete sich ein, daß es in der Realität nichts annähernd Häßliches gäbe. Unmöglich. Er träumte.

Schon war er halb davon überzeugt, als er niesen mußte. Das Niesen fiel zu laut und zu feucht aus, um übergangen zu werden. So nieste man nicht im Traum – falls man überhaupt nieste. Er gab es auf. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Augen zu öffnen und sich nochmals umzusehen. Die Vorstellung allein reichte aus, daß sich seine Halsmuskeln verkrampften.

Kurz vorher war er über einem Artikel eingeschlafen, den er für eine wissenschaftliche Zeitschrift schrieb. Und zwar in seinem eigenen Bett in seiner eigenen Wohnung in der Callahan Hall – »einer bezaubernden und preiswerten Unterkunft für die ledigen Mitglieder des Professorenkollegiums, die auf dem Universitätsgelände zu wohnen wünschen«. Ein schmerzhafter Kitzel am ganzen Körper hatte ihn geweckt. Er hatte das Gefühl, immer stärker und stärker gedehnt und – losgelassen zu werden. Dann war er plötzlich vom Bett geschwebt und wie eine sich rasch auflösende Rauchwolke aus dem offenen Fenster gesegelt. Pfeilschnell hatte es ihn in den sternenübersäten Nachthimmel getragen, und er war immer mehr zusammengeschrumpft, bis er das Bewußtsein gänzlich verlor.

Und dann war er auf dieser riesigen weißen Tischplatte zu sich gekommen. Über ihm spannte sich ein vielfach gewölbter Plafond, und seine Lungen waren voll dumpfer Luft, die sich kaum zum Atmen eignete. Von der Decke hing eine Unzahl zweifellos elektronischer Apparate, wie die Kollegen aus der Abteilung Physik sie sich ausdenken mochten, wenn die Subvention, die ihnen soeben von der Regierung für militärische Strahlenforschung zugewiesen worden war, ein Millionenfaches des Betrages ausgemacht hätte, den sie tatsächlich bekamen, und wenn der Vorstand der Fakultät, Professor Bowles, die Bedingung gestellt hätte, daß bei der Konstruktion eines jeden Apparates sorgfältig darauf zu achten sei, daß er sich grundlegend von allen bisher bekannten elektronischen Geräten unterschied. Die Apparaturen über ihm hatten gerasselt und gegurgelt und gezischt, geleuchtet, geblitzt und gefunkelt. Dann trat Ruhe ein, als sei jemand mit dem Ergebnis zufrieden und hätte einen Schalter ausgedreht.

Da hatte Clyde Manship sich aufgesetzt, um zu sehen, wer hier den Schalter ausgedreht hatte.

Und er hatte gesehen.

Weniger einen Jemand als ein Etwas. Und es war kein hübsches Etwas gewesen. Genau genommen, war kein einziges Etwas, das ihm ein schneller Rundblick enthüllte, auch nur eine Spur hübsch gewesen. Deshalb hatte er die Augen wieder schleunigst geschlossen und nach einem geistigen Ausweg aus seiner Lage gesucht.

Jetzt aber mußte er neuerlich einen Blick riskieren. Vielleicht war es beim zweiten Mal nicht mehr ganz so schlimm. Bewußt klammerte er sich an die Binsenweisheit, »am dunkelsten ist es immer vor Morgengrauen«, setzte aber unwillkürlich fort: »wenn nicht gerade Sonnenfinsternis herrscht.«

Trotzdem aber öffnete er die Augen, wenn auch unwillig wie ein Kind, das den Mund für den zweiten Löffel Rizinusöl auftun soll.

Ja, alles war genau wie zuvor.



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