Der Herr der kleinen Voegel - Roman by Yoko Ogawa

Der Herr der kleinen Voegel - Roman by Yoko Ogawa

Autor:Yoko Ogawa [Ogawa, Yoko]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlagsbuchhandlung Liebeskind
veröffentlicht: 2015-08-25T16:00:00+00:00


8

Nach der Verabredung mit der Bibliothekarin kümmerte er sich noch hingebungsvoller um die Voliere. Genau wie die Lektüre eines ausgeliehenen Buches reichte der Anblick der Vögel, um sich ihr Bild in Erinnerung zu rufen. Wenn er den Boden schrubbte oder defekte Stellen im Maschendraht flickte, hatte er ihre Gestalt deutlich vor Augen: die leicht verschwitzte Stirn, die zwischen den Haarsträhnen hervorschauenden Ohren, ihre weiße Hand, in der sie die Praline hielt.

Die Finken flatterten wie üblich emsig hin und her und brachten ihm ein Morgenständchen.

Eigenartigerweise empfand er die Kinder nun nicht mehr als störend. Selbst wenn sie übermütig herbeigelaufen kamen, um ihm ihre Hilfe anzubieten, und dabei unablässig »Herr der kleinen Vögel« riefen, blieb er gelassen. Sein Spitzname gefiel ihm mittlerweile. Denn solange er der Herr der kleinen Vögel war, konnte er darauf vertrauen, dass der Austausch geheimer Zeichen zwischen ihm und der Bibliothekarin nicht abreißen würde.

»Heute soll es wieder warm werden.«

Die Leiterin war wie üblich aus ihrem Büro gekommen, um sich mit ihm zu unterhalten.

»Ja. Wird nächste Woche das Schwimmbad eröffnet?«

Er war selbst überrascht, dass er ein anderes Thema als Vögel anschnitt.

»Ja, leider bereitet uns die Reinigung immer sehr viel Arbeit. Das viele Moos, das sich im Becken gebildet hat.«

»Ich helfe Ihnen gerne.«

»Vielen Dank. Aber Sie haben schon genug mit der Voliere zu tun. Für die Säuberung des Schwimmbads ist ein Praktikant vorgesehen.«

»Gut, aber falls Sie doch Hilfe benötigen, scheuen Sie sich nicht, mir Bescheid zu sagen.«

»Danke, das werde ich tun. Die Vögel haben ja das Glück, immer in sauberem Wasser baden zu können!«

Die Finken im Vogelbad schlugen kräftig mit den Flügeln, dass es nur so spritzte. Es war, als wollten sie sich vor der Direktorin aufspielen.

Seit dem Besuch der Bibliothekarin war es ihm zur Gewohnheit geworden, sich während seiner Arbeitszeit ein Stück Konfekt aus dem Vorrat der Residenz zu nehmen. In all seinen Dienstjahren hatte er nie in Erwägung gezogen, sich an Beständen zu vergreifen, die eigentlich für die Hausgäste gedacht waren. Nicht mal eine Büroklammer hatte er genommen. Aber seit dem Nachmittag im Rosengarten konnte er, sobald er das Konfekt erblickte, nicht widerstehen. Es geschah nicht aus Gier. Schokolade hätte er auch bei Aozora bekommen. Aber die Sorte, die er bevorzugte, wurde eben im obersten Fach des Vorratsschranks aufbewahrt und war für die Gäste bestimmt.

Wenn eine größere Abendgesellschaft ohne Probleme vonstattengegangen war und alle Anwesenden, Gäste wie Personal, sich zurückgezogen hatten, blieb er, bevor er nach Hause ging, noch einige Minuten in der Küche sitzen. Dann musste er fast zwangsläufig an das Konfekt denken. Es wurde in einem flachen Holzkasten aufbewahrt, auf dem in goldener Schrift der Firmenname eingraviert war. Er stand auf, öffnete den Küchenschrank, holte den Kasten heraus und öffnete den Deckel. Die Pralinen waren in einzelne Fächer sortiert. Es gab ovale, rechteckige, mit Nüssen oder mit Likör gefüllte, karamellisierte, weiße, schwarze – jede einzelne Praline fügte sich wohlgefällig in das für sie vorgesehene Fach. Die Gäste rührten die Pralinen kaum an, sodass der Kasten fast immer voll war.

Er nahm eine Praline heraus. Es war die



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