Der Hals der Giraffe by Schalansky Judith

Der Hals der Giraffe by Schalansky Judith

Autor:Schalansky, Judith
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2011-04-14T16:00:00+00:00


Wie ernst sie aussah. Erika. Aufmerksam. Las ihre Antworten noch einmal durch. Wie die Augen unruhig die Zeilen überflogen, der Mund einzelne Wörter ausbuchstabierte. Sie überlegte und schrieb noch was hin. Selbst mit offenem Mund war sie schön. Jetzt flackerte schon wieder die Neonröhre. Ging aus. Ellen saß fast im Dunkeln. Genug. Die Zeit war sowieso vorbei.

»Zum Ende kommen. Der Countdown läuft.« Endspurt. Sonst machten sie alles nur noch schlimmer.

»Noch zehn Sekunden.« Sie kannte das. Zum Schluss schrieben sie immer noch irgendeinen Blödsinn hin. Einfach so. Damit irgendwas dastand.

»Stifte und Finger weg.«

Wieder Stöhnen, aber sie gehorchten. Alle taten total erschöpft, als ob sie irgendwas geleistet hätten. Immerhin waren sie gefügig. Beste Voraussetzungen, um sie mit neuen Sachverhalten zu konfrontieren. Sie hievte die große Rolle auf den Ständer. Der schwarze Tragegriff hielt das Kartenwerk. Beschichtetes Leinen, abwaschbar und etwas rissig, aber das Schaubild war bestechend klar und schön. Nirgendwo waren die Mendel’schen Gesetze der klassischen Vererbung simpler und eindrucksvoller dargestellt als hier. Das Kreuzungsschema zweier reinerbiger Rinderrassen. Dominant-rezessiver Erbgang. Ein Kessel Buntes. Ganz oben traf ein schwarz-weiß gescheckter Stier auf eine rotbraune Kuh. Was dabei rauskam, waren schwarze Kälber. Aber dann, eine Generation weiter, geschah das Erstaunliche, die regelhafte Aufspaltung der Merkmale: Sechzehn, vier mal vier Möglichkeiten. Lauter bunte Bastarde.

»Wie Merkmale verschwinden und wieder auftauchen, unterliegt bestimmten Gesetzen und lässt sich vorhersagen. Schreiben Sie mit: Sobald zwei reinerbige Individuen gekreuzt werden, die sich in mehr als einem Merkmal unterscheiden, kommt es in der zweiten Tochtergeneration zu einer echten und dauerhaften Neukombination von Erbanlagen.« Alles zeigte sich in der zweiten Tochtergeneration. Das Zurückfallen zu den elterlichen Typen. Zu den Großeltern. Claudias Kind würde seiner Großmutter, also ihr, mehr ähneln als Claudia selbst. Ein Dreiklang. Drei Generationen unter einem Dach. Früher war das ja üblich. Ihr Enkelkind könnte noch einmal ihre blauen Augen bekommen. Hell, ohne Pigmente. Sie wusste nicht mal, welche Augenfarbe dieser Typ hatte. Auf dem Foto war ja nichts zu erkennen gewesen. Das Gesicht vom Grinsen entstellt. Irgendein Mann. Der eine andere Sprache sprach. Ein Fremder. Das Kind würde nicht nach Hause kommen. Claudia würde nicht bauen. Nicht auf den Polderwiesen. Nicht im Sauerland. Nicht im Speckgürtel von Berlin, wohin der Sohn der Bernburgerin gezogen war. Warten brachte nichts. Nichts würde sich auszahlen. Die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wenn sie aber doch noch ein Kind bekäme. Schließlich hatte sie ja geheiratet. Einen Enkel auf einem anderen Kontinent. Zwölf Flugstunden entfernt. Das Kind könnte sie nicht verstehen. Sie konnte nur ein paar Worte. Heiße Kartoffeln im Mund. Mickey-Maus-Englisch. Claudia hatte sich immer lustig gemacht. Diesen Drang, abzuhauen, hatte Claudia von Wolfgang. Immer, wenn es kompliziert wurde, verließ er den Raum. Damals war er auch einfach gegangen. Hatte Ilona und die Kinder zurückgelassen. Für sie. Das war heute kaum noch zu glauben.



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