Der gute Stalin by Jerofejew Viktor

Der gute Stalin by Jerofejew Viktor

Autor:Jerofejew, Viktor [Jerofejew, Viktor]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Berliner Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


4

Vor die Wohnungstür, auf den Fußboden im Flur, legte sie ihre ausgemusterte, hellblaue knielange Unterhose. Nicht so sehr, um sich darauf die schmutzigen Schuhe abzuwischen, sondern vielmehr als Flagge, die von ihrer Machtübernahme kündete. Sie verhüllte die Deckenlampen mit alten Bettlaken, sogar über das Bild im Wohnzimmer hängte sie ein Laken, über die Sofas und Sessel legte sie Lappen – zum Schutz der Möbel. Als meine Eltern nach ihrem Urlaub nach Paris abreisten, veranstaltete Großmutter eine Art Maskierung der Wohnung. Mich ließ sie selbst genähte Sachen anziehen. Mit meiner Kindheit endete auch das Paradies. Ich wurde Großmutter ausgeliefert, ihr überlassen wie ein Kuckucksei. Ich begriff nicht sofort, aber als ich begriff, war ich schon in einem Kinderstraflager, einem Gefängnis für minderjährige Straftäter, gelandet. Ich durfte nicht auf dem Sofa sitzen, aber auf diesen Lappen zu sitzen, hatte ich sowieso keine Lust. Ich durfte sein, was ich in Wirklichkeit nicht sein konnte. Großmutters Nerven waren vollkommen zerrüttet. Sie brüllte. Sie fuhr immer wie wahnsinnig zusammen, wenn das Lüftungsfensterchen aufging. Egal, wie ich mich benahm, es passte ihr nicht, denn die ganze Welt passte ihr nicht. In dieser Welt lebte sie auf Pump, sie hütete Sachen, wie man seine Seele hütet. Sie kämpfte gegen Motten. Daran gab es keinerlei Logik. Meine Eltern musterten später die Sofas und Sessel aus, ohne sie noch einmal anzusehen – sie nahm sie zu sich nach Hause.

Die Beziehung zu meiner Großmutter ging innerhalb weniger Tage zum Teufel. Früher war sie meine geliebte Oma – jetzt meine Peinigerin. Kinder mit nach Hause zu bringen war verboten – es hätten ja Diebe und deren Helfershelfer sein können. Großmutter schloss mich wie Tomaten in einem Einmachglas ein. Ich schwamm ein ganzes Jahr lang darin herum. Ich versank in verzweifelter Einsamkeit, die mich offenbar rettete – ich versank in mir selbst. Großmutter hatte wie ich die vierte Klasse abgeschlossen. Von meinem Schulstoff verstand sie gar nichts. Sie kontrollierte die Noten.

Meine Eltern schickten mich auf eine normale Schule, die Schule Nr. 122, die sich in der Palaschewski-Gasse in der Nähe des Puschkin-Platzes befand, wo ich schon in die erste Klasse gegangen war. Diese Schule besuchte auch der Dissident Bukowski, aber er war älter als ich, und ich kannte ihn damals nicht. Als Bukowski und ich uns später in Cambridge begegneten und die ganze Nacht Rotwein tranken, erinnerten wir uns an die Lehrer, an die stellvertretende Direktorin und Geografielehrerin mit dem Spitznamen »Stockfisch«. Ich hätte auch auf eine Schule für privilegierte Kinder geschickt werden können, was zum Beispiel die Podzerobs taten. Ich weiß nicht, was dabei herausgekommen wäre. Alexej, der an meinem Geburtstag mit Tomatensaft auf Stalin anstieß, wurde Diplomat, der andere Sohn drogenabhängig. Ich freundete mich mit dem zukünftigen Rauschgiftsüchtigen Kirjuscha an. Ich fand ihn interessant, und er war mir sozial nahe. In meiner Schule gab es viele Kinder aus den Kellerwohnungen der Seitengassen und den Gemeinschaftswohnungen der Gorki-Straße. Bei der Hälfte der Klasse heizte man zu Hause noch mit Holz. Meine Klassenkameraden kamen mir vor wie Landstreicher, wie kleine Clochards.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.