Der gelbe Bleistift by Christian Kracht

Der gelbe Bleistift by Christian Kracht

Autor:Christian Kracht [Kracht, Christian]
Die sprache: deu
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Disneyland mit Prügelstrafe

Singapur, 1999

Singapur ist die schrecklichste Stadt, die ich kenne. Na ja, das stimmt nicht ganz. Mogadischu ist schlimmer. Kabul natürlich auch. Aber in diesen beiden Städten herrscht Anarchie und für westliche Beobachter nicht mehr nachvollziehbarer Irrsinn, für allerkleinste Vergehen etwa wird man in Kabul gesteinigt und in Mogadischu erschossen.

In Singapur dagegen herrscht eher das Gegenteil von Anarchie und Irrsinn: Die Straßen sind sauberer als in Zürich, es gibt gleich fünf Filialen der Modefirma Prada und Hunderte von Häagen-Dasz-Eiscafes, und jedes Jahr arbeitet die Regierung des Stadtstaates einen neuen »Seid nett zueinander«-Plan aus, der großflächig plakatiert wird.

Der diesjährige Plan, zum Beispiel, empfahl seinen Bürgern, ihren Mitmenschen stets die Lifttüren aufzuhalten, ihre Wäsche nicht über Gehwegen aufzuhängen, damit Passanten nicht von wassertropfenden Hemden beeinträchtigt würden, und natürlich das gerne und oft ausgesprochene, absolute Kaugummi-Verbot. Es ist wirklich wahr – in Singapur werden Sie nirgendwo ein Kaugummi bekommen, weder am Zeitungskiosk noch im Supermarkt. Ein Päckchen Kaugummi in der Hosentasche zu tragen, ist bereits eine subversive Tat, das Anbringen von Sprühgraffitis an Hauswände hingegen wird mit derselben drakonischen Härte bestraft wie etwa das unerlaubte Fernsehen in Afghanistan: Mit Prügelstrafe.

Im Jahr 1994 wurde der amerikanische Teenager Michael Fay, der in Singapur mit Sprühdosen hantiert und ein Verkehrsschild abgeschraubt hatte, zu zwanzig Schlägen auf den Hintern mit dem Rotan verurteilt. Der Rotan ist eine Art geflochtenes Holz, das tiefe Narben auf der Haut hinterläßt. Die liberale, westliche Weltpresse erregte sich flugs, und schließlich wurde Michael Fays Urteil auf nur vier Schläge mit diesem schlimmen Flechtholz herabgesetzt. Immerhin.

Man muß sich nur diesen jungen Mann vorstellen, auf eine Art Bock geschnallt, die Zähne mit der amerikanischen Zahnspange fest zusammengebissen. Und wie der picklige Bub schmerzverzerrt die Rotan-Schläge zählt: eins, zwei, drei, vier. Nun, er hätte sich, so die Argumentation der Stadtväter, eben benehmen müssen und nicht aus der Reihe tanzen dürfen. Daß in jedem Heranwachsenden ein kleiner Vandale steckt, der gerne mal nachsieht, wie weit er gehen kann, interessiert die Regierung nicht die Bohne. In der Tat: Ordnung, Sauberkeit, Disziplin sind die deprimierenden Grundpfeiler dieser Gesellschaft.

Und daß eine rigide Politik und eine konservative Moral immer auch eine reaktionäre Ästhetik gebiert, davon kann sich der flanierende Besucher auf der Hauptstraße Singapurs – der Orchard Road – überzeugen: Die Stadt scheint tagsüber ausschließlich von Frauen bevölkert, die Twinsets, Perlenketten, karierte Faltenröcke und diese schlimmen Todd’s-Schuhe tragen und deren einziger Lebensinhalt es zu sein scheint, Unmengen von Anziehsachen einzukaufen und schlechte Laune zu haben. Ihre Männer arbeiten tagsüber bei Deutsche Bank/Morgan Grenfell und Credit Suisse/First Boston und vermehren das Geld des Inselstaates, dessen einzige Chance nach dem Verlassen der Malayischen Union im Jahre 1965 natürlich die Errichtung einer einhundertprozentigen Dienstleistungswirtschaft war. Im Gegensatz zu Malaysia hatte Singapur keine Exportgüter und keinerlei Agrarflächen.

Aus der Not wurde eine Tugend, und Premierminister Lee Kuan Yew liberalisierte die Wirtschaft und verbot die freie Meinungsäußerung. Dies führte dazu, daß der Kleinstaat blitzschnell zu einem der reichsten Länder der Welt wurde, leider aber auch zu einem der langweiligsten.

An dieser Stelle, lieber Leser, möchte ich mir einmal selbst auf die Schulter klopfen.



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