Der Bastard von Istanbul by Elif Shafak

Der Bastard von Istanbul by Elif Shafak

Autor:Elif Shafak [Shafak, Elif]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Elif Shafak, Armenien, Familie, Völkermord, Geheimnis, Istanbul, Geschichte
Herausgeber: Kein & Aber AG
veröffentlicht: 2015-04-21T16:00:00+00:00


10. MANDELN

Am fünften Tag ihres Aufenthalts hatte Armanoush den morgendlichen Ablauf im konak der Kazancıs begriffen. An Werktagen wurde das Frühstück schon um sechs Uhr zubereitet und blieb bis halb zehn auf dem Tisch. Während dieser Zeit kochte das Wasser im Samowar ununterbrochen, und stündlich wurde eine neue Kanne Tee gemacht. Statt gleichzeitig am Tisch zu sitzen, kamen die verschiedenen Familienmitglieder zu unterschiedlichen Zeiten, je nach Arbeit oder Stimmung oder Stundenplan. So hatte das Frühstück an Werktagen im Gegensatz zum Abendessen, das ein vollkommen synchronisiertes Ereignis war, etwas von einem morgendlichen Zug, der hier und dort anhielt und Passagiere ein- oder aussteigen ließ.

Fast immer war es Tante Banu, die den Tisch deckte, da sie immer als Erste wach wurde zum Morgengebet. Beim Aufstehen murmelte sie: »Ja, das ist es«, während der Muezzin von der nächstgelegenen Moschee zum zweiten Mal plärrte: »Gebet ist besser als Schlaf.« Dann ging Tante Banu ins Bad, um sich auf das Gebet vorzubereiten, wusch sich das Gesicht, die Arme bis zu den Ellbogen und die Füße bis zu den Knöcheln. Manchmal war das Wasser eiskalt, aber das machte ihr nichts aus. Die Seele muss zittern, um wach zu werden, sagte sie sich. Die Seele muss zittern. Es störte sie auch nicht, dass der Rest der Familie noch fest schlief. Sie betete doppelt so intensiv, damit auch ihnen verziehen würde.

So hatte Tante Banu an diesem Morgen, als der Muezzin zweimal rief: »Allah ist der Größte!«, »Allah ist der Größte!«, bereits die Augen aufgemacht und nach ihrem Morgenmantel und dem Kopftuch gegriffen. Doch im Gegensatz zu sonst fühlte ihr Körper sich schwer, sehr schwer an. Der Muezzin rief: »Ich bezeuge, dass es keinen anderen Gott außer Allah gibt.« Tante Banu konnte immer noch nicht aufstehen. Nicht einmal als sie hörte: »Komm zum Gebet« und dann »Komm zum Heil«, konnte sie ihren Körper auch nur zur Hälfte aus dem Bett hieven. Es fühlte sich an, als wäre das Blut aus diesem Teil ihres Körpers gewichen und hätte einen schweren, weichen Sack zurückgelassen.

Gebet ist besser als Schlaf. Gebet ist besser als Schlaf.

»Was ist los mit euch, warum lasst ihr mich nicht aufstehen?«, fragte Tante Banu leicht frustriert.

Die beiden Dschinn, die auf ihren Schultern saßen, schauten einander an. »Frag nicht mich, frag ihn. Er ist derjenige, der Unfrieden stiftet«, sagte Frau Süß von ihrer rechten Schulter.

Wie der Name schon andeutet, war Frau Süß ein guter Dschinn – einer der rechtschaffenen. Sie hatte ein freundliches, strahlendes Gesicht, eine Corona in Pflaumenblau, Rosa und Purpurrot um den Kopf, einen dünnen, vornehmen Hals und nichts weiter als ein Rauchwölkchen an der Stelle, wo ihr Hals endete und theoretisch ihr Torso hätte beginnen müssen. Ohne Körper sah sie aus wie ein Kopf auf einem Sockel, was sie völlig in Ordnung fand. Anders als von Menschenfrauen erwartete von den Dschinn-Frauen niemand ein wohlproportioniertes Äußeres.

Tante Banu hatte größtes Vertrauen zu Frau Süß, denn sie war nicht eine jener Abtrünnigen, sondern ein gütiger, ergebener Dschinn, der vom Atheismus – einer Krankheit, die unter vielen Dschinn grassierte – zum Islam übergetreten war.



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