Das Spiel des Engels by Carlos Ruiz Zafon

Das Spiel des Engels by Carlos Ruiz Zafon

Autor:Carlos Ruiz Zafon [Zafon, Carlos Ruiz]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2010-02-23T05:00:00+00:00


21

Als ich zum Haus mit dem Turm zurückkam, erblickte ich plötzlich das, was mir für schon so lange Zeit Zuhause und Gefängnis war, mit anderen Augen. Schon im Eingang hatte ich das Gefühl, den Schlund eines steinernen Schattenwesens zu durchschreiten. Wie durch dessen Eingeweide stieg ich die Treppe hinauf. Als ich im ersten Stock die Wohnungstür öffnete und in den langen, düsteren Korridor trat, der sich im Halbdunkel verlor, fühlte ich mich erstmals wie im Vorzimmer eines argwöhnischen, vergifteten Geistes. Am anderen Ende zeichnete sich im scharlachroten, von der Veranda her einfallenden Licht der Abenddämmerung Isabella ab, die mir entgegenkam. Ich schloss die Tür und knipste die Lampe an.

Isabella hatte sich wie eine feine junge Dame gekleidet, das Haar hochgesteckt und mit dem Kajalstift einige geschickte Linien gezogen, sodass sie zehn Jahre älter wirkte.

»Du siehst sehr hübsch und elegant aus«, sagte ich frostig.

»Fast wie eine junge Frau Ihres Alters, nicht? Gefällt Ihnen das Kleid?« »Woher hast du das?«

»Aus einem der Koffer im Zimmer am Ende des Flurs. Ich glaube, es gehörte Irene Sabino. Wie finden Sie es? Passt es mir nicht wie angegossen?«

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst das alles abholen lassen.«

»Das habe ich auch versucht. Heute Morgen bin ich zur Kirchgemeinde gegangen, und die haben mir gesagt, sie holen nichts ab, aber wir können es selber hinbringen, wenn wir wollen.«

Ich schaute sie an und sagte nichts.

»Das stimmt wirklich.«

»Zieh das aus und bring es dahin zurück, wo du es gefunden hast. Und wasch dir das Gesicht. Du siehst ja aus wie …«

»Wie eine Nutte?«

Seufzend schüttelte ich den Kopf.

»Nein. Du könntest nie wie eine Nutte aussehen, Isabella.«

»Natürlich. Darum gefalle ich Ihnen auch so wenig«, murmelte sie, machte kehrt und ging auf ihr Zimmer zu.

»Isabella«, rief ich.

Sie überhörte es und ging hinein.

»Isabella!«, wiederholte ich lauter.

Sie warf mir einen feindseligen Blick zu und schmetterte die Tür ins Schloss. Ich hörte sie im Zimmer herumkramen, trat vor die Tür und klopfte an. Keine Antwort. Ich klopfte erneut. Nichts. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass sie dabei war, ihre wenigen Habseligkeiten in eine Tasche zu packen.

»Was machst du da?«

»Ich gehe. Jawohl, ich gehe und lasse Sie in Frieden. Oder im Krieg – bei Ihnen weiß man ja nie.«

»Darf ich fragen, wohin du gehst?«

»Was spielt das schon für eine Rolle? Ist das eine rhetorische oder eine ironische Frage? Natürlich, für Sie ist das gehupft wie gesprungen, aber ich Dummkopf kann das nicht unterscheiden.« »Isabella, warte mal und –«

»Sorgen Sie sich nicht um das Kleid, ich zieh es gleich aus. Und die Schreibfedern können Sie zurückbringen, ich habe sie nicht benutzt, und gefallen tun sie mir auch nicht. Kitsch für kleine Mädchen im Vorschulalter.«

Ich trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zurück, als hätte eine Schlange sie berührt.

»Rühren Sie mich nicht an.«

Schweigend zog ich mich zur Schwelle zurück. Isabellas Hände und Lippen zitterten.

»Verzeih mir, Isabella. Bitte. Ich wollte dich nicht kränken.«

Sie sah mich mit nassen Augen und einem bitteren Lächeln an.

»Sie haben noch nie etwas anderes getan. Seit ich hier bin.



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