Das Meer der Illusionen by Leonardo Padura

Das Meer der Illusionen by Leonardo Padura

Autor:Leonardo Padura [Padura, Leonardo]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Havanna, Karibik, Kriminalroman, Kuba, Lateinamerika
Herausgeber: Unionsverlag
veröffentlicht: 2015-11-18T16:00:00+00:00


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Er erwachte ohne Angst, aber mit der Gewissheit, dass er das erschreckende Alter von sechsunddreißig Jahren erreicht hatte und dieser Tag sein letzter als Polizist sein würde. Und was er sah, als er die Augen aufschlug, überraschte ihn nicht: ein leeres Aquarium, ein Bett, das nur auf einer Seite eine Kuhle hatte, ein paar mit Staub, aufgeschobenen Plänen und Hoffnungen bedeckte Bücher, eine Flasche Caney, die bis auf den letzten Tropfen ausgewrungen war wie ein Wischlappen, eine ungewisse Zukunft, vor der er sich fürchtete, und, eingerahmt von dem schmalen Fenster, ein Stück Himmel, der wieder unverschämt blau war. Doch er verschwendete kaum einen Gedanken an den Zyklon Félix, der vielleicht gerade an der nächsten Kreuzung stand und diszipliniert auf einen Befehl von Mario Conde wartete, um in die Calzada einzubiegen, die Hauptstraße des Viertels, und mit dem Großreinemachen zu beginnen. Nein, er dachte nicht an Félix, sondern sah auf seinen Wecker, der ihm mitteilte, dass es noch sechs Stunden bis zu seinem persönlichen Jahreswechsel waren. Als hätte das etwas an den Tatsachen geändert! Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er am Nachmittag des 9. Oktober geboren worden war, genau um dreizehn Uhr fünfundvierzig, und jedes Jahr, wenn sie diesen Tag zusammen verbrachten, wartete sie geduldig bis viertel vor zwei, um ihn zu umarmen und ihm den dritten der vier Küsse des Jahres zu geben. Der erste war an ihrem Geburtstag am 15. April fällig, der zweite am Muttertag – immer am zweiten Sonntag im Mai – und der letzte am 31. Dezember, wenn sie bei den letzten Glockenschlägen des Jahres zusammen Weintrauben verschlangen, falls es welche gab; insgesamt zwölf, wenn sie so viele auftreiben konnten, für jeden Glockenschlag eine. Als Mario älter wurde und es vorzog, das neue Jahr mit seinen Freunden auf Straßenfesten oder beim Dünnen zu begrüßen, reduzierten sich die jährlichen Küsse auf drei. Heute beklagte El Conde die nicht mehr rückgängig zu machende Einschränkung der Möglichkeiten, sich ihrer Zuneigung zu vergewissern. Einer scheuen, aber tiefen Zuneigung, die sich zwischen Mutter und Sohn entwickelt hatte, der Ausdruck zu verleihen sie jedoch kaum fähig gewesen waren. Denn zahlreiche andere Gelegenheiten hätten einen Kuss verdient gehabt: der Abschluss des Gymnasiums mit dem Abitur zum Beispiel, die Veröffentlichung seiner Erzählung Sonntage in der Schülerzeitschrift der Literaturwerkstatt, seine Erstkommunion (er so rein und bereit, das Fleisch und das Blut Christi samt Heiligem Geist zu empfangen; sie ganz in Weiß in dem von Stärke und Spitzen knisternden Kleid, an das sich Mario besser erinnern konnte als daran, ob sie ihn vielleicht doch geküsst hatte, was er allerdings bezweifelte). Doch seine Mutter hatte ihm andere Beweise ihrer Zuneigung gegeben, die er im Allerheiligsten seines Gedächtnisses aufbewahrte. Zum Beispiel an dem Tag, als er ohne anzuklopfen ins Badezimmer gegangen war und sie nackt gesehen hatte. Mario musste ungefähr neun Jahre alt gewesen sein, überzeugt davon, bereits bestens über die Geheimnisse des Frauenkörpers Bescheid zu wissen. Aber der Anblick des nass glänzenden Körpers seiner Mutter, der vollen Brüste mit den erigierten dunkelbraunen Brustwarzen und der schwarzbraunen,



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