Das Licht der Toten by Cyrus Darbandi

Das Licht der Toten by Cyrus Darbandi

Autor:Cyrus Darbandi
Die sprache: deu
Format: azw3, epub, mobi
Herausgeber: Aufbau Digital
veröffentlicht: 2013-10-05T22:00:00+00:00


KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIG

Er stürzt einen Abhang hinunter, einen Abgrund, der sich plötzlich vor ihm öffnet, dreht sich, wirbelt, schlägt, prallt gegen Steine, Schutt, Erde, seine Finger greifen nach Halt, greifen ins Leere, er hört sich schreien. Schwärze. Als er die Augen aufschlägt, hört er die Stimme seines Bruders rufen. »Komm endlich, oder willst du dich den ganzen Tag ausruhen?« Scheiße, denkt Robert, gib mir fünf Minuten, aber er ist schon wieder auf den Beinen und schüttelt sich wie eine nasse Katze. Frank ist vielleicht hundert Meter voraus, seine nackenlangen Haare flattern im Wind, ein großer dürrer Bursche, den Robert regelrecht zum Essen zwingen muss. Herrje, der Kleine ist so durch den Wind, dass er glatt vergisst zu essen. Robert ist genauso groß wie sein Bruder, er ist vier Jahre älter, fast siebzehn, muskulös, durchtrainiert, und er ist der einzige Mensch, der weiß, wie es in Frank aussieht. Bei der Beerdigung ihrer Mutter vor drei Wochen haben sie geschworen, auf einander aufzupassen und alles gemeinsam durchzustehen. Ein Umzug steht bevor, sie werden Berlin für längere Zeit verlassen, wer weiß, ob sie jemals zurückkehren. Die Schwester ihrer verstorbenen Mutter und deren Familie in Norddeutschland nehmen sie auf. Robert weiß schon jetzt, dass ihre fürsorgliche Liebe die Mauern, die er um sich errichtet, nicht durchbrechen wird. Der Felsen ist im Werden begriffen. Also Abschied von Berlin, von den grauenhaften Ereignissen der letzten zwei Monate, acht Wochen, die alles verändert haben. Er macht sich große Sorgen um seinen Bruder. Es gibt Tage, an denen Frank wie tot ist, verstummt, verzweifelt am Fenster hockt, den Blick ins Nichts gerichtet. Wenn man ihn anspricht, reagiert er wie in Zeitlupe. Und nur Stunden später platzt er beinahe vor manischer Energie, rast durch den Tag, pulsiert, vibriert, rennt, ruft, aber alles ohne Ziel, ohne Ergebnis.

Energie, die sich selbst verschwendet.

Frank, der sich selbst aufzehrt. Unbändig, kaum zu stoppen – nur um später wieder in einen katatonischen Zustand zu verfallen, Körper und Seele aus dem Tritt.

Robert hingegen versteinert im Inneren. Wenn er nichts mehr fühlt, sich selbst und anderen gegenüber, dann kann ihn nichts verletzen. Die einzige Ausnahme, die einzige Lücke in der Mauer, lässt er für Frank. Aber das nun, denkt er jetzt, ist überhaupt keine gute Idee. Sie sind am Wannsee, und hier gibt es eine Reihe von Gartenlauben, und eine von ihnen gehört ihrem Vater. Ihrem abwesenden Vater, der im Gefängnis auf seinen Prozess wartet. Die Laube ist eigentlich fast schon ein kleines Häuschen mit einem Zimmer, einer Kochnische, einer Dusche. Ideal für abgelegene Wochenenden. Ideal für Morde. Darum sind sie hier. Das Werk ihres Vaters sehen. Natürlich ist inzwischen alles gesäubert worden, die Tatortabsperrungen beseitigt. Das Häuschen steht harmlos und unscheinbar zwischen seinen Nachbarn. Von Kommissar Lohmann haben sie erfahren, dass man es wohl abreißen wird. BLAUBARTS MÖRDERISCHES LIEBESNEST, erinnert sich Robert an die brüllend fette Schlagzeile. Das ist jetzt die letzte Gelegenheit für die Brüder, den Ort zu sehen, an dem ihr Vater drei Frauen getötet hat. Und doch ist es Wahnsinn, denkt er. Frank wird das nicht ertragen.



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