Das Herz kommt zuletzt by Atwood Margaret

Das Herz kommt zuletzt by Atwood Margaret

Autor:Atwood, Margaret [Atwood, Margaret]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783827079374
Herausgeber: PIPER
veröffentlicht: 2017-03-23T23:00:00+00:00


Per Zahlencode gelangt Charmaine in die Medikamentenausgabe, findet den Schrank, gibt einen weiteren Code ein, die Tür geht auf. Sie findet Ampulle und Spritze. Sie steckt die Utensilien ein, streift sich die Latexhandschuhe über, setzt die Gesichtsmaske auf und biegt links in den Flur ein.

Die Korridore sind immer leer, wenn sie zu einer Behandlung unterwegs ist. Ist das Absicht, damit niemand mitbekommt, wer wessen Leben beendet hat? Niemand außer natürlich der Kopf. Und wer immer hinter dem Kopf steckt. Und wer immer sie gerade beobachtet, durch einen Leuchtkörper oder eine winzige nietengroße Linse hindurch. Sie strafft den Rücken, versucht ihre Gesichtszüge zu justieren und ihnen einen, wie sie hofft, positiven, aber entschlossenen Ausdruck zu verleihen.

Hier ist der Raum. Sie öffnet die Tür und geht leise hinein. Sie nimmt die Maske ab.

Der Mann liegt auf dem Rücken, er ist an fünf Stellen an der Trage befestigt, so wie es sich gehört. Sein Kopf ist ein wenig von ihr weggedreht. Wahrscheinlich starrt er gegen die Decke, das Stück Decke, das er sehen kann. Und wahrscheinlich starrt die Decke zurück.

»Hallo«, sagt sie und geht auf die Trage zu. »Ist das nicht ein wunderschöner Tag heute? Schauen Sie nur, wie schön die Sonne scheint! Ich finde, ein sonniger Tag macht gute Laune, Sie nicht auch?«

Der Mann dreht ihr den Kopf entgegen, so weit es eben geht. Er sieht ihr in die Augen. Es ist Stan.

»Ach du grüne Neune«, sagt Charmaine. Fast lässt sie die Spritze fallen. Sie zwinkert ein paarmal in der Hoffnung, dass sich Stans Gesicht in das eines wildfremden Menschen verwandelt. Was aber nicht geschieht.

»Stan«, flüstert sie. »Was haben sie mit dir gemacht? O Liebling. Was hast du angestellt?« Hat er ein Verbrechen begangen? Was für ein Verbrechen? Es muss etwas sehr Schlimmes gewesen sein. Aber vielleicht war es gar kein Verbrechen oder nur ein sehr kleines, denn was könnte Stan denn für ein Verbrechen begangen haben? Ja, er ist manchmal schlecht gelaunt und verliert auch mal die Beherrschung, aber er ist doch an sich kein böser Mensch. Er ist nicht der Typ Verbrecher.

»Hast du nach mir gesucht?«, fragt sie. »Liebling? Du musst ja verrückt gewesen sein vor Sorge. Hast du …« Ist er aus Liebe zu ihr durchgedreht? Ist er hinter die Affäre mit Max gekommen? Das wäre schrecklich. Eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung, so was hat sie mal im Fernsehen gesehen, damals im PixelDust. In einer nicht ganz so seriösen Nachrichtensendung.

»Uhuhuhuhu«, sagt Stan. Ein Rinnsal Speichel läuft ihm aus dem Mundwinkel. Zärtlich wischt sie es weg. Er hat ihretwegen einen Menschen getötet! So muss es gewesen sein! Seine Augen sind weit aufgerissen: Wortlos fleht er sie an.

Das hier ist das Schlimmste überhaupt. Am liebsten würde sie aus dem Raum flüchten und zurück in ihre Zelle rennen, die Tür zuknallen, sich aufs Bett werfen und sich die Decke über den Kopf ziehen. Aber sie steht wie angewurzelt da. Alles Blut sickert aus ihrem Gehirn. Denk nach, Charmaine, sagt sie zu sich. Aber sie kann nicht denken.

»Es passiert nichts Schlimmes mit dir«, sagt sie



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