Das Fest der Zwerge by Carsten Polzin

Das Fest der Zwerge by Carsten Polzin

Autor:Carsten Polzin [Polzin, Carsten]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2013-12-24T05:00:00+00:00


Als der Zug in Frankfurt einfuhr, war es draußen bereits stockfinster. Auf dem Hauptbahnhof herrschte Gedränge, Weihnachtsmusik dudelte aus den Lautsprechern, und in den kleinen Buden wurden Kerzen, Honig und Christbaumschmuck angeboten. Es duftete nach Zimt und heißen Crêpes, und als ich an den Buden vorbeihastete, um meine S-Bahn noch zu erreichen, fragte ich mich, an welchem Punkt meines Lebens Weihnachten für mich den Zauber verloren hatte.

Es musste schon lange her sein. In meiner Kindheit war Weihnachten eine Zeit der Wünsche und der Geheimnisse gewesen, ein Fest, auf das ich mich in feierlicher Erwartung gefreut hatte. Wenn der Christbaum dann endlich in seinem Lichterglanz erstrahlte, war ich unbeschreiblich glücklich.

Nichts davon war übrig geblieben. Das Weihnachtsgeschäft kurbelte natürlich den Buchverkauf an, das war mein bedeutendster Berührungspunkt mit diesem Fest, aber sonst?

Während ich auf die S-Bahn wartete, überlegte ich, was mich jetzt wirklich glücklich machen würde. Die einzige Antwort, die mir einfiel, war, Weihnachten mit Bernd zu verbringen. Und das nicht bloß als Freunde.

Die S-Bahn fuhr ein. Ich zerrte meinen Trolley hinter mir her und fand einen freien Vierersitz, sodass ich wenigstens meine Beine ausstrecken konnte. Ich fühlte mich ausgelaugt und müde und freute mich auf ein heißes Bad. Vielleicht hatte Bernd ja angerufen und mir auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Oder er hatte mir eine Mail geschickt. Aber vermutlich hatte er Besseres zu tun in der Hektik der Weihnachtszeit.

An der nächsten Station stieg eine schwarz gekleidete Frau zu und setzte sich mir gegenüber. Etwas unwillig zog ich meine Füße zurück. Dann fiel mein Blick auf ihr Gesicht.

Sie war unglaublich schön. Ihre Haut hatte einen leichten Bronzeschimmer, die Backenknochen waren hoch, die Augen groß. Ihre Züge selbst waren von einer absoluten Ebenmäßigkeit und Harmonie, als hätte ein Bildhauer sie gestaltet. Einfach perfekt.

Ich starrte die Frau an und war regelrecht hingerissen. Und, ohne es zu wollen, wallte Neid in mir auf. Was würde ich für so ein Aussehen geben! In diesem Moment schoss es mir durch den Kopf, dass ich – hätte ich die Wahl – ohne die geringsten Bedenken mein schriftstellerisches Talent gegen eine derartige Schönheit eintauschen würde.

Ja, das würde ich tatsächlich tun!

Die Frau hob die Brauen, und ich drehte meinen Kopf schnell zur Seite, peinlich berührt, weil ich sie so angegafft hatte. Ich spürte, wie sie mich aus den Augenwinkeln beobachtete. Spürte ihren Blick fast wie ein körperliches Kribbeln. Dann huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. An der nächsten Station stieg sie aus, und ich konnte meine Beine für den Rest der Fahrt ausstrecken. Das seltsame Gefühl ließ mich nicht los.



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