Bittere Lügen: Roman (German Edition) by Perry Karen

Bittere Lügen: Roman (German Edition) by Perry Karen

Autor:Perry, Karen [Perry, Karen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104027951
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-04-15T22:00:00+00:00


Die Tage und Nächte vergingen, und Harry und ich gelangten zu einer Art unausgesprochenen Waffenstillstand beim Thema Weihnachten. Ich erklärte mich einverstanden, bei ihm in Tanger zu bleiben, und dafür würden wir irgendwann im neuen Jahr meine Eltern einladen – als Kompromiss.

Ich sah ihn ab und zu – Garrick –, in den Bars und Cafés, in denen wir verkehrten, uns mit denselben Leuten trafen. Er war immer mal wieder dabei, einer von Cosimos bunter Truppe, aber er wirkte immer allein, reserviert und zurückhaltend. Wir unterhielten uns nie, und ich hatte das Gefühl, dass er kaum Notiz von mir nahm. Aber ich nahm Notiz von ihm – diesem großgewachsenen, leicht gelangweilten Amerikaner mit dem bohrenden Blick. Aus den Gesprächen anderer erfuhr ich einiges über ihn. Das Bild, das ich mir daraus zusammensetzte, war unvollständig und widersprüchlich. Er war aus reichem Hause, finanziell bestens versorgt, und tat nichts anderes, als durch Europa und Nordafrika zu tingeln und sein Geld auszugeben. Er war Dichter, Philosoph, Kunsthändler. Er arbeitete für eine Umweltorganisation. Er hatte das Studium in Cambridge oder Yale oder an der Sorbonne abgebrochen. Er war erfolgreicher Banker gewesen, hatte den Job dann wegen Burn-out, und weil ihn der Kapitalismus anwiderte, an den Nagel gehängt. Er hatte seine Frau durch einen tragischen Unfall verloren und wollte das alles in Tanger vergessen. Wie so viele andere, die sich auf diesem Kontinent treiben ließen, war er auf der Flucht vor sich selbst.

Für mich war er eine Ablenkung. Mehr nicht.

Das Leben ging weiter. Ich arbeitete hart an meiner Malerei, wusste aber, dass ich auf der Stelle trat. Tanger war für mich nicht das künstlerische Erwachen geworden, das es für Harry war. Ich fühlte mich oft einsam. Ich ging häufig in Internetcafés, weil ich den Kontakt mit daheim, mit meinen Freundinnen brauchte. Seltsame Neidgefühle überkamen mich, wenn sie mir in ihren Mails Neuigkeiten aus ihrem Leben erzählten, von interessanten Jobs und vielversprechenden Karrieren, von Geld, das sie verdienten, und Krediten, die sie aufgenommen hatten, von Männern, mit denen sie ausgingen und in die sie sich verliebt hatten und die sie heiraten wollten, von Babys, die sie erwarteten. Ich fühlte mich von allem ausgeschlossen. Mir war, als würde sich das Leben woanders abspielen. Ich behielt das alles für mich. Bei Harry war es anders. Ich hatte ihn noch nie so glücklich gesehen – so lebendig. Seine Bilder waren lebenssprühend und leidenschaftlich und plastisch, durchtanzt von Licht und Farbe. Man schaute sie an und hatte das Gefühl, hineingezogen zu werden.

Eines Abends Ende Dezember hatte ich mal wieder mit Irland telefoniert und fühlte mich danach wie so oft seltsam leer, als ich in unsere Wohnung zurückkehrte. Ich stieg die Treppe hoch, und als ich ins Zimmer trat, erwartete mich eine Szene, mit der ich nicht gerechnet hatte. Cosimo lag ausgestreckt auf der Couch und schälte eine Orange, Garrick saß ihm gegenüber, die Hände im Schoß, und drehte langsam und versonnen Däumchen. Und mitten im Raum kämpfte Harry mit einem Weihnachtsbaum. Er hatte ihn in einen Eimer gestellt und war dabei, Pullover rings um den Stamm zu stopfen, damit das Ding gerade stehen blieb.



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