Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? by Till Raether

Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? by Till Raether

Autor:Till Raether [Raether, Till]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644008809
Herausgeber: Rowohlt E-Book


Seltsam, wie oft ich jetzt geschrieben habe, dass ich mich vor allem für diese Schwäche geschämt habe. Dafür, zu schwach zu sein, meine eigenen und die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Wenn ich vorausblicken darf, dann ist das im Grunde die größte Veränderung, die ich bei meiner etwa dreißig Jahre langen Beantwortung der Frage durchlaufen habe, ob es einfach das Leben oder doch schon die Depression ist: diese Schwäche nicht mehr als Schwäche zu sehen und mich deshalb auch nicht mehr dafür zu schämen.

Meine Kollegin Simone hat mir einmal, als wir über das Schreiben von Kriminalromanen sprachen, von einem Trick erzählt, wenn sie nicht weiterweiß in ihren Büchern. Sie fragt sich dann, was die Superkraft der Person ist, über die sie gerade schreibt. Da Simone keine Comics oder Science-Fiction-Romane schreibt, ist die Superkraft einer Person hier eine Metapher. Eine besondere Eigenschaft, die den Kern dieser Person ausmacht. Indem die Autorin sich darauf besinnt, kann sie sich besser vorstellen, wie diese Person sich verhalten wird und was sie erleben wird. Ich glaube, die Superkraft von Simones Hauptfigur, der Staatsanwältin Chastity Riley, ist eine große emotionale Durchlässigkeit, die sie immer wieder zwingt, auf alles zu reagieren und sich selbst aggressiv zu schützen, die es ihr aber eben auch ermöglicht dranzubleiben, wenn andere längst aufgegeben hätten.[*]

Ich glaube also, dass die Schwäche, für die ich mich früher so geschämt habe, heute meine Superkraft ist. In dem Sinne, dass sie mich daran hindert, Dinge zu tun, die mir (und im Übrigen auch anderen) schaden könnten. Aber Schwäche ist auch meine Superkraft, weil sie mir Dinge ermöglicht, die gar nicht selbstverständlich sind und die für andere vielleicht sogar schwer zu bewerkstelligen sind. Es ist recht einfach: Weil ich mich nicht mehr schäme, nehme ich meine Schwäche als Warnsystem wahr. Wie vielen Menschen in freien Berufen oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen fiel und fällt es mir oft schwer, nein zu sagen, auch wenn ich genau weiß, dass ich eigentlich keine Zeit für einen weiteren Auftrag habe.

Und dann fing ich früher immer an zu grübeln: «Wenn du jetzt nein sagst, kriegst du vielleicht nie wieder einen Auftrag, und später, wenn du wenig zu tun hast, bereust du das.» Mein Bauchgefühl war: Ich bin eigentlich zu schwach dafür, mir noch mehr aufzuladen. Oder, wenn einem das Wort nicht gefällt: Ich habe nicht genug Energie, Kapazitäten, Ressourcen. Und trotzdem habe ich immer, immer ja gesagt. Was dann auf geradem Weg in die völlige Überforderung geführt hat und ein paarmal auch zu nur noch mühsam kaschierten Zusammenbrüchen. Ich habe schon geweint vor Wut im Arbeitszimmer, weil ich so frustriert darüber war, wie viel Unschaffbares ich mir wider besseres Wissen aufgeladen hatte. Ich habe meine Frau gebeten, sich neben mich zu setzen und mir gut zuzureden, während ich Unterlagen sortierte, die mir über den Kopf wuchsen, und vor denen ich allein kapituliert hätte. Übrigens gar kein schlechter Tipp für Momente, in denen gar nichts mehr geht, sich eine (von der Problemlage im Job) unabhängige, aber liebevolle Instanz dazuzuholen, die einem hin und wieder sagt: Du kriegst das hin, guck mal, du bist schon weiter als vorhin.



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