Bevor der Abend kommt by Joy Fielding

Bevor der Abend kommt by Joy Fielding

Autor:Joy Fielding
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Herausgeber: PeP eBooks
veröffentlicht: 2011-11-17T15:01:54+00:00


Cindy lag im Bett und sah zu, wie eine forsche junge Frau namens Ricki Lake eine Gruppe wahlweise mürrischer oder kichernder Teenager interviewte. »Warum denkst du, dass deine Freundin sich wie eine Schlampe kleidet?«, fragte Ricki munter und hielt einem der Mädchen ein phallisches Mikrofon vors Gesicht.

Ihre Lippen sind nicht zu schmal?

Cindy zappte weiter, bevor das Mädchen antworten konnte, und beobachtete, wie ein attraktiver Mann namens Montel Williams sich mit übertriebener Betroffenheit der zitternden jungen Frau zuwandte, die neben ihm saß. »Wie alt waren Sie, als Ihr Vater Sie zum ersten Mal belästigt hat?«

Ich möchte, dass Frauen dieses Mädchen ansehen und denken: ›die verlorene Seele‹. Und ich will, dass Männer sie ansehen und denken ›Blow-Job‹.

Ein weiterer Knopfdruck und statt Montel erschien Oprah auf dem Bildschirm, dann Jenny, dann Maury und eine Person namens Judge Judy, eine durch und durch unangenehme Frau, die offenbar der Ansicht war, dass der Gerechtigkeit am besten damit gedient war, wenn sie alle beleidigte, die vor ihren Richterstuhl traten. »Hat sie Sie um Ihren Rat gebeten?«, fauchte Judge Judy eine traurige Frau mittleren Alters wütend an. »Bloß weil sie Ihre Tochter ist, heißt das nicht, dass Sie ihr vorschreiben können, wie sie zu leben hat.«

Meine Tochter ist Julia Carver.

Julia schaltete auf der Suche nach Ablenkung auf den Comedy-Sender um. »Meine Mutter stammt von einem anderen Planeten«, erklärte eine junge Komikerin und fügte nach einer Kunstpause hinzu: »Also, eigentlich stammt sie aus der Hölle.«

Cindy schaltete den Fernseher ab und warf die Fernbedienung Richtung Fußende, wo sie Elvis nur knapp verfehlte, der sie vorwurfsvoll ansah, bevor er vom Bett sprang und aus dem Zimmer trottete. Unten hörte sie ihre Mutter das Abendessen zubereiten. Wahrscheinlich sollte sie aufstehen, hinuntergehen und helfen, aber sie war zu müde, um sich zu rühren, zu ausgelaugt, um auch nur symbolisch ihre Hilfe anzubieten.

Das Telefon klingelte.

»Hallo?« Cindy betete, die Stimme ihrer Tochter zu hören, und wappnete sich für die unvermeidliche Enttäuschung.

»Alles in Ordnung?«, fragte Meg am anderen Ende.

»Mir geht es gut.«

»Ich hab mich echt mies gefühlt, nachdem wir gegangen waren«, fuhr Meg fort. »Als ob wir dich irgendwie im Stich gelassen hätten.«

»Das habt ihr nicht.«

»Ich wünschte nur, wir könnten irgendwas sagen oder tun …«

»Da kann man nichts sagen oder tun.«

»Ich könnte später noch mal vorbeikommen …«

»Nein, das ist schon okay. Ich bin ziemlich müde.«

»Du brauchst Ruhe.«

»Ich brauche Julia.«

Verlegenes Schweigen.

»Du musst versuchen, positiv zu denken.«

Klar. Warum auch nicht? Warum bin ich darauf nicht selber gekommen? »Ich gebe mir alle Mühe.«

»Ich liebe dich«, sagte Meg.

»Ich weiß«, erklärte Cindy ihr. »Ich liebe dich auch.«

Cindy legte den Hörer auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Positiv denken«, wiederholte sie höhnisch und spürte ihren warmen Atem in ihren Handflächen. Dann hob sie den Kopf und starrte das Telefon wütend an. »Hab ich dich um deinen Rat gebeten?«, fragte sie mit Judge Judys schriller Stimme.

Sie wusste, dass sie ungerecht war, dass Meg nur sagte, was sie wahrscheinlich auch sagen würde, wenn die Situation umgekehrt wäre. Sie wusste, dass die Sorge ihrer Freundin aufrichtig war, ihre Liebe und Unterstützung unerschütterlich.



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