Besuch am Heiligabend by Lise Gast

Besuch am Heiligabend by Lise Gast

Autor:Lise Gast [Gast, Lise]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Saga
veröffentlicht: 2016-04-20T23:00:00+00:00


Besuch am Heiligabend

Mutter ließ die Hände einen Augenblick sinken und horchte. War das Andreas’ Schritt? Man hörte hier jeden, der kam, schon eine Weile den Dachboden entlangtappen, wenn man allein war und darauf achtete. Es war ein kleines lustiges Spiel, zu raten, wer kam. Andreas’ Schritt glich dem seines Vaters. Mutters Herz machte sich bereit, loszuklopfen – wenn Andreas da war, konnte man sagen: Jetzt fängt Weihnachten an.

Aber immer saß da noch eine verborgene Angst in irgendeiner Falte, ob nicht doch noch etwas dazwischenkäme.

Nein, es war nicht Andreas. Trotzdem lächelte Mutter, als die Tür aufging. Es war Onkel Pan. Er hatte natürlich geklopft, und auch jetzt trat er so ein, daß man von vornherein sah, wie er sich für sein Hiersein, ja für seine ganze Existenz entschuldigte. Mutters Enttäuschung, daß es nicht Andreas war, wurde sogleich von einem warmen Gefühl hinweggeschwemmt.

»Aber da gibt es doch nichts zu entschuldigen, im Gegenteil«, sagte sie herzhaft, »wirklich nicht! Ich bin sowieso noch wach, sehen Sie, und freue mich, ein wenig Gesellschaft zu haben. – Außerdem warte ich auf Andreas.« Sie fügte das hinzu, damit er auch wirklich merkte, wie lieb es ihr war, daß er kam.

»Ja, der bin ich nun leider nicht«, sagte er und blickte sie an.

Mutter lächelte dankbar. Onkel Pan war Jurist, irgendein gewesener Rat, was für einer, das konnte sie nie behalten. Aber immer wieder staunte sie, daß ein Mann dieser Fakultät solch ein zartes Einfühlungsvermögen haben konnte wie er; sie stellte sich unter Juristen stets Männer von unerbittlicher Strenge vor. Onkel Pan drängte einem seine Ansichten nie auf, aber man fühlte sofort, daß er einen verstand.

»Kommen Sie, ich habe schon eine Büchse voll fertig. Sie sollen Tee dazu bekommen«, sagte sie und stellte eine Blechdose mit Pfefferkuchen auf die Ecke des Tisches, die Tasse dazu. Ihre Hände waren mehlig. Als sie den Stuhl heranrückte, lachte sie. »Eigentlich müßte ich ihn jetzt mit der Schürze abfegen. So macht man es doch bei Küchenbesuchen?«

Da saß er, Onkel Pan, alt und fein und schmal, und war ihr, nur durch sein Da-Sein, ein rechter Herzenstrost. Sie hatte diesen Rest Tee eigentlich morgen früh selbst trinken wollen. Wenn sie abends so lange arbeitete, war es morgens wohltuend, sich mit Tee aufzumuntern. Aber sie tat, als habe sie noch reichlich davon.

»Nein, nein, ich weiß doch, wie gern Sie ihn mögen. Und ich selbst möchte nicht. Wissen Sie, wenn ich Tee getrunken habe, horche ich doch nur die ganze Nacht.«

»Er kommt wahrscheinlich doch erst morgen, oder sogar übermorgen«, Onkel Pan hatte sie genau verstanden.

Mutter seufzte. Sie ließ das Nudelholz über den Teig rollen; es polterte ein wenig. Dann legte sie es weg, schaute nach dem Feuer, öffnete die Backröhre und blieb davor hocken, obwohl sie noch keinen von den darin duftenden Kuchen herausnehmen mußte.

»Ich weiß so wenig von ihm«, sagte sie gedämpft. Dann schwiegen sie beide.

Es war das erstemal, daß sie dies aussprach. Eigentlich kam es ihr selbst überraschend. Alle Welt beneidete sie darum, wie gut sie sich mit ihren Kindern verstand, und es war vielleicht ein bißchen Eitelkeit, daß sie diese gute Meinung aufrechterhielt.



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