Berlin - Moskau by Büscher Wolfgang

Berlin - Moskau by Büscher Wolfgang

Autor:Büscher, Wolfgang
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Reiseberichte, Reiseerzählungen/Europa
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-12-27T16:00:00+00:00


EIN SIBIRISCHER YOGI

Einen gab es in Minsk, auf den ich neugierig war. Einen noch. Ihn wollte ich noch sehen, bevor ich weiterzog. Er wurde von der Krim zurückerwartet, wo er den Sommer verbracht hatte. Der bezeichnete Tag kam, und ich nahm die Metro zur Station Traktornij Sawod. Es wurde eine Audienz. Er saß auf seinem Stuhl in einem Zimmer voller Heiligenbilder, seine langen Locken hingen ihm bis auf die Brust, schwarz und silbern, und neben ihm stand Tatjana, seine schöne Tatjana. Er war ein schöner Mann, und sie unterstrich dies wie gutes Licht. Was noch? Ein Sessel voller Kreuze, eine Ecke mit Fotos, Mönche und Starzen, die ihn gesegnet hatten, mystische Männer mit langem Haar und langen Bärten, das Foto seiner Mutter. Und auf dem Teppich die nagelneue, chromglänzende Hantel. Ich saß den beiden etwas tiefer gegenüber, auf der Liege, auf der er den Leuten die Schmerzen nahm. Die Audienz war kurz. Er fragte, wer ich sei und warum unterwegs. Dann sagte er, wer er sei. Und dann erklärte er, wie man leben solle. Gute, leichte Nahrung, die täglichen Übungen, die Gebete, all das.

Wie alle Yogis war er ein schlechter Erzähler. Es ist nicht ihr Fach. Sie vergessen die Details, die Namen, die Zeit. Besorgt fragte er mich, ob ich etwa ein historisches Buch schreiben wolle, dazu habe er nichts beizutragen. Ich beruhigte ihn. Der Grund meiner Reise war schnell erklärt. Ich ging zu Fuß, das war genug. Er hatte einen Mönch gekannt, der war auch gegangen, zehntausend Kilometer. Dem hatte ein Starez gesagt, ein alter Weiser: Du musst ständig das Kloster wechseln, ständig unterwegs sein, das ist dein Gottesdienst. Der Mönch nahm es auf sich. Er legte ein Gelübde ab, die zehntausend Kilometer durch Russland zu gehen. Oleg traf ihn hinterher in einem Kloster bei Pskow und behandelte seine Füße und den Rest, dafür schenkte ihm der Mönch die schwarze Kreuzkette, die er unterwegs geflochten und getragen hatte, und irgendwie bürgte die Kette auch für mich. Ich hätte gern mehr über den Mann erfahren, aber Oleg hatte alles vergessen, er wusste nicht einmal mehr dessen Namen.

Die Audienz war beendet. Nun hielt es ihn nicht länger auf seinem Stuhl, er sprang auf, ich musste auch aufstehen, und seine Hände gingen auf mich los. Seiner Rechten fehlte ein Finger. Die anderen neun waren aufgeladen und zuckten, wenn sie etwas fanden, Oleg folgte ihnen um mich herum wie ein Rutengänger.

Die Nase. «Da sind ein paar Kanäle zu.»

Die Schulter. «Tut’s weh?»

Der Bauch. «Mit den Nieren stimmt was nicht.»

Er lief hinaus, kam mit einem vollen Tablett wieder und gab mir Milch und Honig, zweierlei Honig, von Blumen und Buchweizen. Einer seiner Patienten war Imker, er zahlte in Honig.

Als ich Oleg das zweite Mal traf, versuchte ich ihn zu bewegen, über seine Mutter zu sprechen, von der er das Heilen hatte, über seine Jugend, über das Bergwerk. Alles, was ich herausbekam, war: Bis zum zwanzigsten Jahr hatte er im äußersten Fernen Osten gelebt, in Jakutien, einer ganzen langen Kindheit und Jugend dort entstieg ein einziges Bild.



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