Augen des Waldes by Duffy Brendan

Augen des Waldes by Duffy Brendan

Autor:Duffy, Brendan [Duffy, Brendan]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-01-11T05:00:00+00:00


Sechsundzwanzig

Charlie rannte die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Hier war es warm, aber er zitterte trotzdem.

Ganz zuerst musste er das Blut abwaschen, für den Fall, dass Mom nochmal nachsehen kam. Im Dunkeln hatte das Blut wie Matsch ausgesehen, aber Hudson hatte den Unterschied gleich bemerkt.

Charlie hatte es eigentlich für eine gute Idee gehalten, nachts nach dem Beobachter Ausschau zu halten. Obwohl der Beobachter ihm im Laufe des Sommers und des Herbstes so viele Geschenke gemacht hatte, so viele extra für ihn hindrapierte Tiere im Wald, hatte er sich doch sehr selten selbst blicken lassen. Zweimal allerdings hatte Charlie ihn von seinem im Astwerk über dem Feenkreis gebauten Hochsitz aus am See erspäht. Beide Male hatte der Beobachter da versucht, mit bloßen Händen Fische zu fangen, was er aber falsch angefangen hatte – das wusste Charlie, weil es im Buch der Geheimnisse ein Kapitel über alle möglichen Arten des Fischens gab. Charlie hatte das Buch dann am See liegengelassen und die entsprechende Seite mit einem bunten Ahornblatt markiert. Am nächsten Morgen war das Buch verschwunden gewesen, aber am Tag darauf hatte Charlie es wiedergefunden: Es lag, umringt von fünf Waschbärköpfen, mitten im Feenkreis.

Über die Monate hatte sich das Spiel, das er mit dem Beobachter spielte, verändert. War es ihm am Anfang noch vorgekommen wie Fangen oder eine Schatzsuche, hatte es jetzt viel mehr mit einem Versteckspiel zu tun, bei dem sie sich beide gleichzeitig versteckten und suchten. Zunächst hatte Charlie geglaubt, dass sich die Regeln des Spiels verändert hatten, aber als er das Blut in den Abfluss der Badewanne strudeln sah, fragte er sich, ob es jemals Regeln gegeben hatte.

Charlie ging nachts nur dann raus, wenn der Mond die Landschaft erhellte. Im Griff von dessen kaltem Licht und den Launen des Windes wogten die Wiesen auf dem Drop wie ein Meer. Heute war es kälter gewesen als auf seinen bisherigen Nachtwachen. Eine Jacke hatte er zwar angehabt, aber eben keine Schuhe – um sich geräuschlos fortbewegen zu können.

Eine Rehfamilie hatte auf der südlichen Seeseite getrunken und sich nicht weiter von Charlie stören lassen, als er in den Feenkreis trat und leise die Strickleiter hinaufstieg, die ihn zu seiner Aussichtsplattform brachte. Während er kletterte, hörte er in einiger Entfernung Kojoten heulen. Kojoten hatte er schon in vielen Nächten gehört, aber in diesen Teil des Waldes hatten sie sich noch nie vorgewagt. Denn dieser Teil des Waldes war schon in Beschlag genommen.

Als er oben angekommen war, suchte Charlie das Seeufer ab und merkte, dass die Rehe weg waren. Nachts war alles anders auf dem Drop. Manchmal sah man Fledermäuse vor den Sternen herumflattern, manchmal hörte man aus der Tiefe des Waldes den klagenden Schrei einer Eule.

Während der langen Nacht im Heizungskeller seiner alten Schule hatte Charlie eine Menge über die Dunkelheit gelernt. Er wusste, dass es nicht nur eine einzige, sondern viele verschiedene Dunkelheiten gab. Die Dunkelheit war wie ein Ding aus übereinandergelegten Stoffschichten – und jede Schicht war anders gewebt. Je länger man in die Dunkelheit schaute, desto mehr Schichten blätterten weg und gaben Stück für Stück die darunterliegende Welt frei.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.